Psychologische Freundschaftsforschung. Ein Überblick*

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Psychologie

[*]  Der folgende Artikel zur Freundschaftsforschung ist im Original 2013 in der Zeitschrift Familiendynamik erschienen (Heidbrink, H. (2013). Psychologische Freundschaftsforschung. Ein aktueller Überblick. Familiendynamik, 38 (3), 180-187.)

Ich danke der Redaktion und dem Verlag der Familiendynamik für die Erlaubnis, diesen Beitrag hier erneut zu veröffentlichen.

Zusammenfassung

Obwohl Freundschaften zweifellos durch die jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen beeinflusst sind, ergeben sich aus den einschlägigen Studien der letzten Jahrzehnte keine deutlichen Hinweise auf dramatische Veränderungen von Freundschaftsbeziehungen. 

Soziale Netzwerke im Internet führen nicht zur Trivialisierung von Freundschaften, sondern dienen vor allem der Freundschaftspflege in Zeiten, in denen viele berufsbedingt mobil sind und sein müssen. Die Fähigkeit zur Freundschaft ist uns nicht angeboren, sondern wir müssen sie entwickeln. In Kindheit und Jugend lernen wir mit Freunden umzugehen und auf sie einzugehen, wir entwickeln durch sie weitere, zusätzliche Perspektiven auf uns und unsere Beziehungen. Freundschaften helfen uns bei der Ablösung vom Elternhaus und beim Erwachsenwerden, bei der Balance zwischen Interdependenz und Autonomie.

Freundschaften zwischen Frauen unterscheiden sich häufig von Freundschaften zwischen Männern. Zwischen Frauen dominiert das Gespräch, zwischen Männern die Interaktion. In beiden Fällen handelt es sich um gleichberechtigten Austausch – zumindest in unserer Idealvorstellung von Freundschaft, an die unsere realen Freundschaften allerdings häufig nicht heranreichen.

Freundschaften tun uns gut, nicht nur unserem psychischen, sondern auch unserem physischen Wohlbefinden. 

Psychological Friendship Research – An overview

Summary

Although friendships are definitely influenced by the prevailing cultural and social conditions, studies on this topic over the past few decades do not contain any clear indications of dramatic changes to friendships emanating from this quarter.

Social networks on the internet do not lead to a trivialisation of friendships. In an age when professional requirements make many of us highly mobile, they are in fact an operative factor in the active cultivation of friend- ships. Our capacity for friendship(s) is not innate, we have to work on it. In childhood and adolescence we learn how to treat our friends and relate to them. Through them we develop further additional perspectives on ourselves and our relationships. Friend- ships help us during the separation process from our parental home. They facilitate our progress towards adult- hood and help us to find a balance between interdependence and autonomy.

Friendships between women often differ from those between men. In female friendships verbal exchange is paramount, in the male variety interaction is the dominant feature. In both cases the exchange takes place on an equal basis, at least in our idealised notion of friendship, which our actual real-life friendships may not always live up to.

Friendships do us good, not only psychologically but also in terms of our physical well-being.


Psychologische Freundschaftsforschung. Ein Überblick*

Freundschaft ist in der Psychologie erst in den letzten Jahrzehnten zum Thema geworden. Vorher fand man selbst in Lehrbüchern kaum etwas zu dieser so alltäglichen sozialen Beziehung. Gegenwärtig scheinen vor allem die neuen sozialen Netzwerke im Internet das Thema Freundschaft und auch die Freundschaftsforschung zu inspirieren. Auf der einen Seite steht die medien- und kulturkritische Befürchtung, dass Freundschaften durch Netzwerke wie Facebook irgendwie „entwertet“ werden, sich in ihnen die „wahren“ Freundschaften des Real Life in nebulöse, kurzfristige Pseudofreundschaften verwandeln (vgl. Deresiewicz, 2009).

Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, dass soziale Netze immer mehr Einfluss auf unsere persönlichen Beziehungen bekommen. Dies mag weniger an einem prinzipiell negativen Einfluss des Mediums Internet liegen als an der nicht bestreitbaren Tatsache, dass durch kommerzielle Netzwerke mittlerweile ein großer Teil unserer beruflichen und privaten Kommunikation vermittelt wird.

Indem Netzwerke nicht nur die Kategorien für die Einteilung unserer sozialen Beziehungen vorgeben, sondern auch die Art und Weise unserer Kommunikation technisch determinieren, beeinflussen sie diese mehr oder weniger stark. Die anfänglich befürchteten negativen Auswirkungen medial vermittelter Kommunikation scheinen allerdings nicht eingetroffen zu sein. Möglicherweise nehmen wir sie aber auch mit zunehmender Gewöhnung gar nicht (mehr) als negativ wahr.


Definitionen und Konzepte von Freundschaft

Wir alle haben eine bestimmte Vorstellung von Freundschaft. Selbst wenn wir aktuell niemanden als Freund bezeichnen würden, haben wir sicherlich früher Freunde bzw. Freundinnen gehabt, als Kinder, als Jugendliche, als Erwachsene. Jeder kennt also freundschaftliche Beziehungen aus eigener Erfahrung. Als kleine Kinder haben wir schnell Freundschaften geschlossen, diese aber auch ebenso schnell wieder beendet. Freundschaften waren meist Spielkameradschaften auf Zeit, die man bei Streitigkeiten beenden und bei danach aufkommender Langeweile wieder reaktivieren konnte. Erwachsenen fällt das Schließen von Freundschaften deutlich schwerer. Obwohl wir also alle auf mehr oder weniger ausgeprägte Freundschaftserfahrungen zurückgreifen können, fällt uns eine genauere Bestimmung dieser sozialen Beziehung nicht leicht.
Freund, Freundin, Freundschaft, befreunden und befreundet sein – sprachlich haben wir viele Möglichkeiten, soziale Beziehungen mit Freundschaftsattributen auszuzeichnen. In diesem Sinne kann ich z. B. eine berufliche Beziehung als freundschaftlich bezeichnen, um neben dem formellen Aspekt („Wir sind Kollegen!“) auch eine besondere Enge und Vertrauensbasis („Wir sind auch Freunde!“) deutlich zu machen. Bei hierarchischen Beziehungen kann die Qualifizierung als freundschaftlich eine gleichzeitig existierende Ebene der Gleichheit bzw. Reziprozität postulieren („Er ist zwar mein Chef, aber auch mein Freund!“). In diesem Sinne kann eine Mutter die Beziehung zu ihrer Tochter als freundschaftlich bezeichnen. Mit einer derartigen Redeweise soll zumeist eine formelle Sozialbeziehung als durch eine informelle Freundschaftsbeziehung „überlagert“ gekennzeichnet werden (vgl. Heidbrink, 2009, S. 36 f.).

So scheinen auch die Grenzen zwischen Freundschafts- und Liebesbeziehungen fließend zu sein. Es ist durchaus üblich, dass sich die Partner in einer Liebesbeziehung als Freund bzw. Freundin bezeichnen, wobei manchmal nur durch die Wahl des Pronomens auf die Exklusivität einer Liebesbeziehung hingewiesen wird: „meine Freundin“ vs. „eine Freundin“.
Diese sprachlichen Nuancierungen machen Unterschiede zwischen Freundschafts- und Liebesbeziehungen deutlich. So gehen wir meist davon aus, dass romantische Beziehungen einen Exklusivitätsanspruch beinhalten, den es in Freundschaftsbeziehungen in strikter Form nicht gibt.
Auhagen (1991, 1993) schlägt nach kritischer Durchsicht unterschiedlicher wissenschaftlicher Definitionen vor, Freundschaft folgendermaßen zu bestimmen:

„Freundschaft ist eine dyadische, persönliche, informelle Sozialbeziehung. Die beiden daran beteiligten Menschen werden als Freundin¬nen oder Freunde bezeichnet. Die Existenz der Freundschaft beruht auf Gegenseitigkeit; sie besitzt für jede(n) der Freundinnen/Freunde einen Wert, welcher unterschiedlich starkes Gewicht haben und aus verschiedenen inhaltli-chen Elementen zusammengesetzt sein kann. Freundschaft wird zudem durch folgende weitere essentielle Kriterien charakterisiert: Freiwilligkeit – bezüglich der Wahl, der Gestaltung und des Fortbestandes der Beziehung; zeitliche Ausdehnung – Freundschaft beinhaltet einen Vergangenheits- und einen Zukunftsaspekt; positiver Charakter – unabdingbarer Bestandteil von Freundschaft ist das subjektive Erleben des Positiven; keine offene Sexualität“ (Auhagen, 1993, S. 217).

Kolip (1993, S. 82) kritisiert an dieser Definition, dass in ihr explizit formelle Beziehungen ausgeschlossen werden. Sie verweist hierzu auf Untersuchungen, in denen Männer relativ häufig eine Frau als „engsten Freund“ bezeichneten, wobei sie meist ihre Ehefrauen meinten (vgl. Lowenthal, Thurnher & Chiriboga, 1975; Rubin, 1985). Problematisch findet sie auch das Kriterium der sexuellen Enthaltsamkeit, das bei Auhagen eine deutliche Grenze zwischen Freundschafts- und Liebesbeziehungen markieren soll.

Wie viele Freunde/Freundinnen haben wir?

Die Frage nach der Anzahl unserer Freunde ist weitaus weniger leicht zu beantworten, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Dies hängt vor allem mit der unklaren Definition von Freundschaft zusammen, so dass wir je nach Art der konkreten Frage durchaus unterschiedlich antworten können. Argyle und Henderson (1990, S. 86) berichten, dass die meisten Personen einen oder zwei „beste Freunde“ haben, viele allerdings auch keinen. Bei „engen Freunden“ wurden durchschnittlich fünf genannt, fragt man generell nach „Freunden“ ca. 15. Bei einer Infratest-Erhebung aus dem Jahr 2008 antworteten auf die Frage nach der Anzahl „enger Freunde“ 7% mit „keinen“, 27% mit 1 oder 2, 42% mit 3 bis 5, 20% gaben mehr als 5 enge Freunde an (4% keine Antwort) (Infratest, 2009).
Auch in einer aktuellen Studie von Neji (2012) ergaben sich vergleichbare Zahlen bei einer Internetbefragung (N = 336). Die Teilnehmer hatten im Schnitt 2,5 beste Freunde, 3,2 enge und 11,6 lockere Freunde. 2,7% der Teilnehmer hatten keinen besten Freund, 3,3% der Teilnehmer keinen engen Freund und 1,2% der Teilnehmer keinen lockeren Freund (Neji, 2012, S. 20). Das Alter der Befragten korrelierte hoch mit dem Alter der Freunde/Freundinnen: beste Freunde .82, enge Freunde .76, lockere Freunde .70 (Neji, S. 21). Je enger die Freundschaft, desto ähnlicher sind sich die Freunde in Bezug auf ihr Alter. Ähnlich hohe Alterskorrelationen zwischen Freunden finden sich auch in anderen Untersuchungen (z. B. Marbach, 2007, S. 80).

Entwicklung von Freundschaften

Die Freundschaftsforschung gilt zu Recht als theoretisch wenig fundiert. Empirische Arbeiten in diesem Bereich beziehen sich häufig nicht oder nur beiläufig auf theoretische Konzepte. Eine Ausnahme bildet vor allem der entwicklungspsychologische Blick auf Freundschaften. Hier geht es auch um die Frage, ab wann Kinder untereinander Freundschaften entwickeln und inwieweit sich Freundschaften im Laufe von Kindheit und Jugendalter verändern. In enger Anlehnung an die Entwicklungsstufen der „Sozialen Perspektivenübernahme“ (Selman, 1976; Heidbrink, 2008) hat Selman (1984, S. 116) fünf Entwicklungsstufen von Freundschaftskonzepten vorgeschlagen (die Altersangaben sind hierbei nur als grobe Orientierung zu verstehen).

Enge Freundschaft als momentane physische Interaktion (5–6 Jahre)

Für Kinder auf dieser Stufe besteht Freundschaft aus Miteinander-Spielen. Sie haben noch Schwierigkeiten, zwischen verschiedenen Graden von Befreundetsein zu unterscheiden. „Was für eine Person ist ein guter Freund? Jungen spielen mit Jungen, Lastautos spielen mit Lastautos, Hunde spielen mit Hunden. Warum sind sie deshalb gute Freunde? Weil sie dieselben Dinge tun“ (S. 153). Selbst wenn die Kinder den Begriff des Vertrauens bereits kennen, verstehen sie ihn eher physisch, d. h. der andere wird ihnen ihr Spielzeug nicht wegnehmen oder zerstören: „Wer ist dein bester Freund? Erich. Vertraust du ihm? Ja. Was heißt das, dass du ihm vertraust? Wenn ich ihm ein Spielzeug gebe, weiß ich, dass er es nicht kaputtmacht. Woher weißt du das? Er ist nicht stark genug“ (S. 154).
Auch Konflikte und Konfliktlösungen basieren noch auf demselben naiven Vertrauen auf körperlicher Kraft: „Wenn du und deine Freundin beide mit demselben Spielzeug spielen wollt, wie entscheidet ihr dann, wer es bekommt? Hau‘ sie. Oder spiel‘ einfach mit was anderem“ (S. 154).

Enge Freundschaft als einseitige Hilfestellung (7–9 Jahre)

Freundschaft wird hier als einseitige, zweckorientierte Beziehung gesehen: „Man braucht einen Freund, weil man Spiele spielen möchte, und man muss jemanden haben, der so spielt, wie man das möchte“ (S. 155). Um einen Freund zu finden, muss man also dessen Interessen und Vorlieben kennen. Ein guter Freund weiß aber auch, was man selbst gern tut. Dies sind auch die Kriterien, nach denen Freundschaften gerangreiht werden können: „Der beste Freund ist der, der weiß, welche Spiele man am liebsten spielt“ (S. 156). Die Ursachen von Konflikten werden genauso einseitig gesehen wie die möglichen Lösungen: „Wie entsteht ein Streit zwischen Freunden? Wenn sie Schimpfworte zu mir sagt oder so. Wie könnt ihr dann wieder Freunde werden? Bring sie dazu, dass sie’s zurücknimmt und sagt, dass sie gelogen hat“ (S. 156).

Enge Freundschaft als Schönwetter-Kooperation (10–12 Jahre)

Auf dieser Freundschaftsstufe bekommen die Kinder eine erste Idee davon, dass man Beziehungen nicht nur eingeht, weil man einen Spielpartner benötigt, sondern dass es um die soziale Interaktion selbst geht. Vertrauen wird jetzt als „Reziprozität von Gedanken wie von Taten interpretiert“ (S. 157). Man kann dem anderen also nicht nur Dinge anvertrauen, sondern auch Informationen, die dieser nicht an Dritte weitergeben wird. Ein aktueller Streit beendet eine Freundschaft, diese kann aber durch aufrichtiges gegenseitiges Versöhnen wieder hergestellt werden. „Kann jemand dein Freund sein, auch wenn ihr euch streitet? Ja. Wenn man sich streitet und sagt, ‚ich hasse dich‘ und ‚du bist doof, ich hasse dich, ich hasse dich‘, und wenn man das wirklich ernst meint, dann wäre das nicht gut; aber wenn man es nicht wirklich so meint, und man meint es in dem Moment, aber nicht wirklich, dann ist es schon in Ordnung“ (S. 120).

Enge Freundschaft als intimer gegenseitiger Austausch (Jugendalter)

Auf dieser Stufe gelingt es den Freunden, nicht nur sich selbst mit den Augen des anderen zu sehen (vorherige Stufe), sondern die Freundschaft als Beziehung zu begreifen. Die Nähe innerhalb der Freundschaft wird jetzt daran gemessen, inwieweit die Freunde bzw. Freundinnen sich über intime persönliche Belange austauschen können (S. 159). Die Intensität der Freundschaft berührt auch Gefühle von Eifersucht, da die Freundschaft den Charakter von Exklusivität bekommen kann – man möchte die Freundin bzw. den Freund nicht mit anderen teilen. Freundschaft wird jetzt auch als das Ergebnis einer zeitlich dauerhaften Beziehung gesehen: „Du kennst deine Freundin schon ganz lange, und du magst sie so gern, und dann bist du plötzlich sauer auf sie und sagst: Ich könnte dich einfach abmurksen; aber man mag sich doch noch, weil man sich schon seit Jahren kennt und immer eng befreundet war, und du weißt eigentlich, daß ihr in ein paar Sekunden sowieso wieder Freunde sein werdet“ (S. 124).

Enge Freundschaft als Autonomie und Interdependenz (Adoleszenz, Erwachsene)

Diese Freundschaftsstufe stellt die Überwindung der engen Abhängigkeiten der vorherigen Stufe dar, die jetzt durch den Anspruch an Autonomie ausbalanciert wird. „Man kommt dann an einen Punkt, wo man fast abhängig ist vom anderen, und man ist kein Individuum mehr. Wenn du – wenn sie alles über dich weiß, wenn du so abhängig von ihr bist, finde ich das egoistisch“ (S. 125). Nach Selman versuchen Freunde auf dieser Stufe, (a) auf die „eigenen tieferen Gefühle zu achten; (b) auf die persönlichen und emotionalen Belange des Freundes einzugehen; und (c) einen Modus zu finden, sich diese Gefühle gegenseitig mitzuteilen“ (S. 126).
Fatke und Valtin (1988) konnten in einer deutschen Studie mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (N = 130) wesentliche Annahmen von Selman bestätigen.

In entwicklungsbezogenen Darstellungen von Freundschaftsbeziehungen wird meist deren positiver Charakter hervorgehoben. Neben der Einübung und Übernahme unterschiedlicher sozialer Perspektiven haben enge Freundschaften vor allem in Bezug auf die Ablösung vom Elternhaus wichtige Funktionen. Seiffge-Krenke (2009) spricht in diesem Zusammenhang von Freunden als „Entwicklungshelfern“. Jugendliche unterscheiden ab dem 12. Lebensjahr zwischen öffentlichen und privaten Informationen und sind weniger bereit, private Informationen mit den Eltern zu besprechen. Die Adressaten der „Selbstenthüllung“ („self-disclosure“) verändern sich zwischen dem 12. und 17. Lebensjahr deutlich: Die Zwölfjährigen vertrauen sich noch am ehesten der Mutter an, die Fünfzehnjährigen bevorzugen enge Freunde, bei den Siebzehnjährigen ist es bereits häufig der romantische Partner, mit dem Vertrauliches besprochen wird. Gegenüber beiden Eltern wird zunehmend weniger enthüllt; deren Stelle nehmen zunächst Freunde und später auch romantische Partner ein (vgl. Heidbrink, 2009, S. 43).

Neben dyadischen Freundschaften bilden Kinder und Jugendliche auch Cliquen, also kleine Gruppen von Freunden, die sich meist in ihrem familiären Hintergrund, ihren Einstellungen und Wertvorstellungen ähneln. Zunächst beschränken sich die Cliquen auf Mitglieder des gleichen Geschlechts, mit steigendem Alter ergeben sich dann auch gemischte Gruppen. Jugendliche orientieren sich an der Gruppe der Gleichaltrigen und entwickeln ihre Verhaltensweisen, Einstellungen und moralischen Intuitionen innerhalb der Peergruppe. Neuere Studien zur Entwicklung des menschlichen Gehirns sprechen für die Auffassung, dass die Pubertät als eine Art Prägephase in Hinblick auf die Übernahme sozialer Regeln und moralischer Intuitionen angesehen werden kann (Heidbrink, 2008, S. 157). Die Angst von Eltern, ihr Kind könnte als Jugendlicher in „schlechte Gesellschaft“ geraten, korrespondiert mit dem Gruppendruck, dem gerade Jugendliche unterliegen (S. 78). Die problematische Seite von Freundschaftsauswirkungen im Jugendalter zeigen auch Analysen delinquenter Freundschaftsnetzwerke. Die Anzahl delinquenter Freunde erhöht die Wahrscheinlichkeit, als Mehrfachgewalttäter in Erscheinung zu treten stärker als andere Einflussfaktoren wie Alkohol- und Drogenkonsum, Gewalt legitimierende Männlichkeitsnormen, erlebte Elterngewalt und Konsum gewalthaltiger Medien (Baier et al., 2009, S. 81 ff.; vgl. Heidbrink, 2009, S. 44).

Freundschaft als Prozess

Nach Argyle und Henderson (1990, S. 91) kann man die Entstehung von Freundschaften als einen dreiphasigen Prozess verstehen, der auch einen fortlaufenden Auswahlprozess beinhaltet. In der ersten Phase lernen wir Personen oberflächlich kennen, auf die dann in der nächsten Phase geplante Verabredungen bzw. Treffen erfolgen. Auf der letzten Stufe können dann aus den sporadischen Treffen regelmäßige werden und eine wechselseitige Bindung erfolgen. Die einzelnen Stufen kann man sich als „Filter“ vorstellen, über die wir die neuen Bekanntschaften auf ihre „Freundschaftseignung“ prüfen und von diesen geprüft werden. Bei den ersten Einladungen geht es meist darum, etwas über die Einstellungen, Interessen, Wertvorstellungen und den Lebensstil des anderen zu erfahren. Für Freundschaften sind derartige Ähnlichkeiten notwendige, wenn auch nicht immer hinreichende Voraussetzungen. Solange wir wenig über den anderen wissen, besteht die Gefahr, dass wir statt Gemeinsamkeiten deutliche Differenzen entdecken. Beim typischen Small Talk geht es also vor allem um die Entdeckung von Gemeinsamkeiten – und die Vermeidung einer allzu schnellen Aufdeckung unüberbrückbarer Unterschiede (z. B. in Bezug auf politische oder religiöse Einstellungen). „Gleich und gleich gesellt sich gern“ gilt also nicht nur für romantische Beziehungen, sondern insbesondere für Freundschaften. Ohne ausreichend viele gemeinsame Interessen und Einstellungen fehlt einer Freundschaft die Basis – wir haben dann wenig, was wir mit dem Freund teilen könnten. Nur wenn sich Personen gegenseitig als „belohnend“ empfinden, wird es zu weiteren Treffen kommen. Wenn wir jemanden einladen, dann gehen wir auch das Risiko einer Ablehnung ein. Das positive Gefühl, wenn unser Interesse von anderen geteilt wird, weicht schnell Enttäuschung oder sogar Beschämung, wenn wir auf Ablehnung stoßen.

Freundschaften entwickeln sich also mehr oder weniger schnell. Dies hängt auch von den Persönlichkeiten der potentiellen Freunde ab. Wer eher schüchtern und zurückhaltend ist, wird möglicherweise extrovertierte Freunde besonders attraktiv finden, weil sie auf ihn zugehen und bei der Überwindung sozialer Hemmungen hilfreich sind. In dieser Hinsicht können sich bei Freundschaften also auch „Gegensätze anziehen“ (vgl. Heidbrink, 2009, S. 45f).

Wright (1984) hält die gegenseitige Abhängigkeit und die Wertschätzung der Individualität für die konstituierenden Faktoren einer Freundschaftsbeziehung (vgl. Selmans 4. Stufe). Freundschaften dienen also auch der positiven Bewertung und Entwicklung des eigenen Selbst. Trotzdem achten wir in Freundschaften durchaus auf eine ausgewogene Kosten-Nutzen-Bilanz, wobei diese natürlich subjektiv geprägt ist. Die Reziprozität innerhalb von Freundschaften bezieht sich nicht nur auf Handlungen, sondern auch auf gegenseitige Zuneigung, Beistand, Unterstützung sowie Bewertungen und Interpretationen. Sowohl die eigenen als auch die Präferenzen des anderen bestimmen die austauschtheoretischen Umrechnungskurse innerhalb von Freundschaften. Zumindest in den elaborierteren Freundschaftskonzepten geht es vorrangig nicht um den Austausch von materiellen Gütern oder physische Unterstützung, sondern um gegenseitiges Vertrauen, um den Austausch von Gefühlen mit dem Ziel des „positiven Selbsterlebens“ (Lambertz, 1999, S. 39).

Lambertz (1999) hat mit Hilfe eines standardisierten Freundschaftstagebuches Stimmungsverläufe in Frauenfreundschaften untersucht. Insgesamt sechs Freundinnenpaare füllten über einen Zeitraum von jeweils drei Monaten das weitgehend standardisierte Tagebuch täglich aus. Hierbei wurde nicht nur die eigene Stimmung, sondern auch die vermutete Stimmungslage der Freundin erhoben. Die statistische Auswertung erfolgte über Techniken der Zeitreihenanalyse. Die gemeinsamen Aktivitäten bestanden in den meisten Fällen aus Gesprächen. Vertrauen und die Möglichkeit, sich aussprechen zu können, wurden als zentrale Inhalte der Freundschaft herausgestellt. Materielle Hilfeleistungen (z. B. Kinderbetreuung) kamen selten vor, auch Kritik an der Freundin wurde selten geäußert.
In der Regel konnte sich eine Freundin in die Stimmungen der anderen deutlich besser einfinden. Missstimmungen und Ärger – obwohl selten – wurden deutlich besser wahrgenommen als positive Stimmungen. Interessanterweise gab es nur wenig Übereinstimmung zwischen Selbst- und Fremdeinschätzungen
Es bestand eine große Neigung, von den eigenen Empfindungen auf die der Freundin zu schließen. Lambertz (1999, S. 210 f.) beobachtete bei den Freundinnen einen „falschen Konsensuseffekt“: „Sie nehmen an, daß die andere genauso empfindet wie sie selber und diese wahrgenommene Ähnlichkeit scheint für die Beziehung wichtiger zu sein als eine tatsächliche Übereinstimmung“. Jede der Freundinnen glaubt fälschlicherweise, dass die andere so fühlt wie sie selbst. Hieraus resultiert ein illusionäres Gefühl gegenseitigen Verstehens, das die tatsächlichen Stimmungen allerdings nicht beeinträchtigt und auch in der Freundschaftsbeziehung nicht zu Konflikten zu führen scheint.

Frauen- und Männerfreundschaften

In Anlehnung an Wright (1982) werden Männerfreundschaften aufgrund der häufig zentralen gemeinsamen Aktivitäten als „side-by-side“ und Frauenfreundschaften aufgrund ihrer hohen Gesprächszentriertheit als „face-to-face“ charakterisiert.
Schobin (2013) stellt über einen Vergleich von Freundschaftsratgebern fest, dass sich ein „feminines Freundschaftsideal“ etabliert habe:
„Während Anfang der 1990er Jahre noch hauptsächlich männliche Autoren darüber schrieben, wie man gemeinsam mit seinen Freunden erfolgreich sein kann, sind die Autoren heute meist weiblichen Geschlechts. Und ihnen geht es nicht mehr darum, im Leben etwas zu erreichen, sondern um die besondere Beziehung zur Freundin. War Freundschaft damals der Weg zu Erfolg, Glück und Einfluss, so lautet die neue Losung Weil wir Freundinnen sind“ (S. 9).

Dieser Wandel im veröffentlichten Freundschaftsideal korrespondiert mit Ergebnissen empirischer Studien. Frauenfreundschaften werden im Vergleich zu Männerfreundschaften als intensiver und zufriedenstellender angesehen. So stellte Maurer (1998) fest, dass Frauen differenziertere Vorstellungen über Freundschaften haben und auch zufriedener mit ihren Freundschaften sind. Pfisterer (2006) konnte mit einer deutschen Version des Freundschaftsfragebogens (ADF) zeigen, dass Frauen sowohl ihre engen als auch ihre lockeren Freundschaften positiver bewerten als Männer.

Akdogan (2012) überprüfte mit dem ADF die Vermutung von Eberhardt und Krosta (2004), dass die häufig gefundenen Geschlechtsunterschiede auf Milieuunterschiede zurückzuführen sind. Akdogan konnte zeigen, dass die Geschlechtsunterschiede in der von ihm untersuchten (nicht repräsentativen) Stichprobe in einem von drei Milieus (bei den sog. „Hedonisten“) deutlich reduziert waren. Dieses Ergebnis korrespondiert mit den Befunden von Eberhardt und Krosta (2004), die aufgrund von qualitativen Analysen zu dem Schluss kommen, dass die Unterschiede zwischen Frauen und Männern im „Unterhaltungsmilieu“ geringer sind als im „Selbstverwirklichungsmilieu“.
Es spricht also einiges für eine Milieugebundenheit von geschlechtsspezifischen Freundschaftsunterschieden, wobei allerdings repräsentative Studien hierzu bislang fehlen.

Freundschaft und Internet

Becker (2011, S. 43 f.) stellt fest, dass frühe Studien zu sozialen Beziehungen im Internet das Bild einer Verarmung und Verschlechterung persönlicher Beziehungen entwarfen (z. B. Kraut et al., 1998). Mittlerweile stellt sich die Situation allerdings differenzierter dar. Neuere Studien (z. B. Kujath, 2011) zeigen, dass sich die zunächst gefundenen Unterschiede zwischen Online- und Offline-Beziehungen im Laufe der Zeit nivelliert haben, insbesondere bei Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen.
Giemsa (2011) ließ 243 Studierende Online- und Offline-Freundschaften über Polaritätsprofile einschätzen. Hierbei zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Freundschaften, weder in Bezug auf enge noch auf lockere Freunde. Giemsa führt dies auch auf den Umstand zurück, dass sich heute Offline- und Online-Freundschaften nur noch schwer trennen lassen, da auch zwischen ursprünglichen Offline-Freundschaften Kontakt über soziale Netzwerke (insbesondere Facebook) gehalten wird.

Insgesamt scheint die Anzahl „reiner“ Online-Freundschaften in der Öffentlichkeit weit überschätzt zu werden. Becker (2011) kommt nach Durchsicht aktueller Studien zu dem Schluss, dass Freundschaften, die ausschließlich über die Nutzung von sozialen Netzwerken im Internet geschlossen werden, selten zu finden sind. Netzwerke wie Facebook dienten vor allem der computervermittelten Pflege und Auffrischung bestehender Freund- und Bekanntschaften über räumliche Entfernungen hinweg. Interessant ist allerdings, dass sich bei reinen Online-Freundschaften in einigen Studien ein unerwartet hoher Anteil gegengeschlechtlicher Beziehungen zeigte. Becker vermutet, dass soziale Netzwerke normative Restriktionen gegenüber gegengeschlechtlichen Beziehungen vermindern und mehr Gelegenheiten für diese schaffen (S. 46 f.).

Freundschaft und Gesundheit

Es gibt zahlreiche Studien, die auf einen positiven Zusammenhang zwischen Freundschaft und Wohlbefinden hinweisen (vgl. Bliezner & Adams, 1992; King & Terrance, 2008; Larson, Mannell & Zuzanek, 1986; Nussbaum 1994; Steptoe, A. et al., 2013). In einer Metaanalyse auf der Basis von 148 Längsschnittstudien (die durchschnittliche Dauer der Studien lag bei 7,5 Jahren) mit insgesamt 308.849 Teilnehmern wurden die Auswirkungen fehlender sozialer Beziehungen mit Gesundheitsrisiken wie Rauchen, Alkoholkonsum und Übergewicht verglichen (Holt-Lunstad, Smith & Layton, 2010). Das Ergebnis: Personen mit zufriedenstellenden sozialen Beziehungen hatten eine deutlich höhere Überlebenswahrscheinlichkeit. Berechnet wurde eine relativ hohe Effektstärke (Odds Ratio = 1,5), die in etwa dem gesundheitlichen Risiko durch das tägliche Rauchen von 15 Zigaretten entspricht. Einsamkeit übersteigt sogar Risiken, die mit körperlicher Inaktivität und starkem Übergewicht verbunden sind. Möglicherweise sind die tatsächlichen gesundheitlichen Risiken sogar noch höher, da die Autoren darauf hinweisen, dass in vielen Studien nur einfache Maße zur Erhebung der sozialen Integration verwendet wurden und die einzelnen Effektstärken mit der Komplexität der verwendeten Erhebungsverfahren stiegen. Die Zusammenhänge zwischen dem sozialen Umfeld und Gesundheit scheinen weitgehend altersunabhängig zu sein, d. h. sie betreffen nicht nur alte Menschen. Interessanterweise war ein funktionierender Freundes- und Bekanntenkreis für die positiven gesundheitlichen Auswirkungen wesentlich, die Tatsache, ob jemand allein oder mit anderen zusammenlebte, war nicht ausschlaggebend.
Sicherlich sind in derartigen Studien die kausalen Zusammenhänge nie gänzlich zu klären. So ist es durchaus plausibel, dass sich gesundheitliche Einschränkungen ihrerseits negativ auf soziale Beziehungen auswirken. Die Autoren weisen allerdings darauf hin, dass in den meisten der berücksichtigten Studien die Teilnehmenden zu Beginn gesund waren und der gesundheitliche Status zu Beginn der Studien keinen moderierenden Effekt auf die Überlebenswahrscheinlichkeit hatte (Holt-Lunstad, Smith & Layton, 2010, S. 9).

Die genauen Mechanismen, die den Einfluss sozialer Beziehungen auf das körperliche Wohlbefinden erklären könnten, sind bislang weitgehend ungeklärt. Erste Hinweise geben Untersuchungen wie die von Chen et al. (2011), die zeigen, dass das Hormon Oxytocin eine Rolle bei der stressreduzierenden Wirkung der Anwesenheit von Freunden spielen könnte.

Das Ende der Freundschaft

In vielen Fällen werden Freundschaften nicht explizit beendet. Freunde treffen sich mit der Zeit immer weniger häufig, sie verlieren sich aus den Augen, wobei dies nicht einmal mit dem Gefühl einhergehen muss, dass die Freundschaft nicht mehr besteht. Häufig geht der Verlust von Freunden mit einer Veränderung in den Lebensumständen einher, wenn beispielsweise eine Freundin heiratet und Kinder bekommt (vgl. Marbach, 2007, S. 81). Die für das Weiterbestehen von Freundschaften notwendigen gemeinsamen Interessen können sich durch veränderte Lebensumstände familiärer bzw. beruflicher Art reduzieren und letztlich dazu führen, dass Freundschaften „auslaufen“.
Fragt man nach besonderen Gründen, warum Freundschaften beendet wurden, werden vor allem Verletzungen von bestimmten „Freundschaftsregeln“ genannt. Argyle und Henderson (1990, S. 96 ff.) bekamen in einer Befragung vor allem folgende Gründe für das Zerbrechen von Freundschaften genannt: Eifersucht, Kritik an Beziehungen zu Dritten, Weitergabe von Vertraulichem, fehlende Hilfe, mangelndes Vertrauen, öffentliche Kritik, fehlende positive Wertschätzung. Deutliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen fanden sich nicht, allerdings gaben Frauen häufiger fehlende Wertschätzung und mangelnde emotionale Unterstützung als Beendigungsgründe an (vgl. Heidbrink, 2009, S. 46 f.).

Literatur

Akdogan, Y. (2012). Frauen- und Männerfreundschaften – Ähnlich oder doch ganz anders? Bachelorarbeit. Hagen: Fernuniversität.

Argyle, M. & Henderson, M. (1990). Die Anatomie menschlicher Beziehungen. München: mvg. 

Auhagen, A. E. (1991). Freundschaft im Alltag. Eine Untersuchung mit dem Doppeltagebuch. Bern, Stuttgart: Huber. 

Auhagen, A. E. (1993). Freundschaft unter Erwachsenen. In A. E. Auhagen, & M. von Salisch (Hrsg.). Zwischenmenschliche Beziehungen. Göttingen: Hogrefe.

Baier, B., Pfeiffer, C., Simonson, J. & Rabold, S. (2009). Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt.Hannover: Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V.

Becker, S. (2011). Freundschaft 2.0 – Veränderungen enger informeller Beziehungen durch die Nutzung von Social Media. Bachelorarbeit. Hagen: Fernuniversität.

Bliezner, R. & Adams, R. G. (1992). Adult Friendship. Newbury Park: Sage.

Chen, F. S., Kumsta, R., von Dawans, B., Monakhov, M., Ebstein, R. P. & Heinrichs, M. (2011). Common oxytocin receptor gene (OXTR) polymorphism and social support interact to reduce stress in humans. Proceedings of the National Academy of Sciences, 108 (50), 19937–19942.

Deresiewicz, W. (2009). Faux Friendship. The Chronicle of Higher Education. http://chronicle.com/article/Faux-Friendship/49308/

Eberhard, H.-J. & Krosta, A. (2004). Freundschaften im gesellschaftlichen Wandel. Eine qualitativ-psychoanalytische Untersuchung mittels Gruppendiskussionen. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag DUV.

Fatke, R. & Valtin, R. (1988). Wozu man Freunde braucht. Psychologie Heute15 (4), 22–29. 

Giemsa (2011). Zur subjektiven Empfindung des Freundschaftsbegriffs. Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Online- und Offlinefreunden. Bachelorarbeit. Hagen: Fernuniversität.

Heidbrink, H. (2008). Einführung in die Moralpsychologie. 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Weinheim: Beltz.

Heidbrink, H. (2009). Face-to-Face und Side-by-Side: Frauen- und Männerfreundschaften. Ergebnisse der psychologischen Freundschaftsforschung. In E. Labouvie (Hrsg.). Schwestern und Freundinnen. Zur Kulturgeschichte weiblicher Kommunikation (S. 35–57) Köln: Böhlau Verlag.

Holt-Lunstad, J., Smith, T. B. & Layton, J. B. (2010). Social relationships and mortality risk: a meta-analytic review. PLOS Medicine, 7(7), e1000316. 

Infratest (2009). Wie viele enge Freunde haben Sie? Sozio-oekonomisches Panel 2008 (SOEP). Statista http://de.statista.com/statistik/daten/studie/179799/umfrage/anzahl-enger-freunde/

King, A. R., & Terrance, C. (2008). Best friendship qualities and mental health symptomatology among young adults. Journal of Adult Development, 15, 25–34.

Kolip, P. (1993). Freundschaften im Jugendalter. Der Beitrag sozialer Netzwerke zur Problembewältigung. Weinheim, München: Juventa. 

Kraut et al. (1998) Kraut, R., Patterson, M., Lundmark, V., Kiesler, S., Mukophadyay, T. & Scherlis, W. (1998). Internet paradox. A social technology that reduces social involvement and psychological well-being? American Psychologist, 53, 1017–1031.

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Trittbrettfahren in Zeiten von Corona*

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Psychologie

Freerider

Ärgern Sie sich auch über Corona-Impfverweigerer? Die glauben, dass es reicht, wenn andere sich impfen lassen? Die sich selbst über alle Regeln hinwegsetzen? Die nicht bereit sind, Masken aufzusetzen, um sich und andere zu schützen?
Oder ärgern Sie sich über diejenigen, die sich sklavisch an die „überflüssigen“ Regeln halten?
Schauen wir uns an, ob uns die Wissenschaft Erklärungen liefern kann. Tatsächlich sind eine Reihe aufschlussreicher Studien bereits zu einem Zeitpunkt veröffentlicht worden, zu dem es bis zum Ausbruch der Pandemie noch 20 Jahre dauern sollte. Daher geht es in den Experimenten auch nicht um die Ausbreitung von Viren, sondern ganz simpel um Geld.

Public-Goods-Spiele

Wie sieht so ein Experiment aus? Sie sitzen mit drei anderen Personen an einem Spieltisch. Zu Beginn des Spiels bekommt jeder 20 Euro. In jeder Runde können kann man von diesen 20 Euro einen Betrag zwischen 0 und 20 Euro in den Gemeinschaftstopf geben. Für jeden gespendeten Euro erhalten die Spieler 40 Cent, egal, wer gespendet hat.
Die erste von 10 Spielrunden startet. Was werden Sie und ihre Mitspieler spenden? Nehmen wir an, Sie entscheiden sich, die Hälfte ihres Startkapitals zu spenden, also 10 Euro. Jetzt sind Sie gespannt, wie viel die anderen in den Gemeinschaftstopf gegeben haben.
Anfänglich läuft das Spiel ganz gut. Alle spenden ähnlich viel, sodass jeder mehr zurückbekommt als er gespendet hat. Nach den ersten Durchgängen fällt Ihnen jedoch auf, dass einer der Mitspieler nichts mehr spendet, aber trotzdem den größten Gewinn einstreicht. Danach gehen die Spenden insgesamt schnell zurück.

Was machen Sie? Klar, Sie reduzieren ihre Spenden auch, da Sie sonst auf der Verliererstraße landen. Nach dem zehnten Durchgang stellen Sie fest: Keiner hat mehr etwas gespendet. Abbildung1

Abb. 1: Beiträge in einem Public-Goods-Spiel mit festen (»Partner«) und wechselnden fremden (»Stranger«) Mitspielern (Gächter, 2006, S. 5)


Altruistische Bestrafungen


Wie kann man das Kollabieren der Spendenbereitschaft verhindern? Vielleicht sollten Sie ihre Mitspieler besser kennenlernen. Oder nach jedem Durchgang kurz mit allen besprechen, wer aus welchen Gründen viel oder wenig gespendet hat. Beides gute Ideen, die aber leider nicht gut funktionieren. Selbst wenn man beide Maßnahmen einführt, steigt die Spendenbereitschaft zwar kurzfristig, fällt dann aber doch in sich zusammen.

Versuchen wir es mit einer radikaleren Regel: Nach jedem Durchgang haben Sie die Möglichkeit, andere Mitspieler zu bestrafen. Allerdings müssen Sie dafür selbst bezahlen: Wenn Sie einen Euro abgeben, muss einer der Mitspieler 10 Prozent von seinem Gewinn zurückgeben. Mit 10 Euro können Sie ihm den gesamten Gewinn abknöpfen. Der wandert dann wie ihre Bestrafungszahlung in den Gemeinschaftstopf. Sie selbst bekommen ihn nicht.
Jetzt passiert Erstaunliches: Die Trittbrettfahrer werden nicht nur von Ihnen, sondern auch von anderen bestraft – was das Zeug hält. Der Erfolg stellt sich umgehend ein: In den weiteren Durchgängen verhalten sich alle ziemlich kooperativ, die Spendenbereitschaft bleibt erhalten!

Abbildung2

Abb. 2: Beiträge in einem Public-Goods-Spiel mit 95-Prozent-Konfidenz-Intervall und zeitlicher Variation der Bestrafungsmöglichkeit (A / B) (Fehr & Gächter, 2002, S. 138)


Man nennt dies „altruistische Bestrafung“, weil der Strafende selbst keinen direkten finanziellen Nutzen hat. Warum bestrafen wir trotzdem? Der Grund liegt in dem Ärger über die Trittbrettfahrer, die sich auf unsere Kosten unfair bereichern. Unsere Belohnung besteht in dem Gefühl, mit unserer Zahlung für Gerechtigkeit gesorgt zu haben – es ihnen „gegeben“ zu haben.
Wenn wir momentan voll maskiert durch eine Innenstadt gehen und uns eine Gruppe unmaskierter Männer entgegenkommt, die rauchen, trinken und sich lautstark unterhalten, empfinden wir genau diesen Ärger. Allerdings fehlt uns die Möglichkeit der Bestrafung. Wenn wir die Polizei informieren, ist die Gruppe längst weg. Wenn wir sie selbst ansprechen, bewirken wir meist wenig.


Antisoziale Bestrafungen

Oft rufen diejenigen, die sich brav an die Regeln halten, bei denjenigen, die dies nicht tun, Aggressionen hervor. Wieso?
Hierzu erbrachte eine weitere Studie interessante Erkenntnisse: In 16 weltweit verteilten Städten wurde das Public-Goods-Game mit Studierenden an Wirtschaftsfakultäten gespielt. Eigentlich interessierten sich die Untersucher für nationale Unterschiede im Ausmaß der altruistischen Bestrafung. Bei der Auswertung stießen sie auf ein interessantes Phänomen: Sie fanden nicht nur altruistische, sondern auch „antisoziale“ Bestrafungen. Als „antisozial“ werteten sie Bestrafungen von Spielern, die selbst weniger gespendet hatten als der Bestrafte.


Abbildung3

Abb. 3: Altruistische und antisoziale Bestrafung in 16 Städten. Rangreihe nach dem Ausmaß antisozialer Bestrafung (Herrmann et al., 2008, S. 1363)


Die Studierenden in Boston (USA) zeigten das geringste, die in Muscat (Oman) das höchste Ausmaß an antisozialer Bestrafung. Bei den acht Orten mit niedriger antisozialer Bestrafungsrate handelt es sich um Städte aus westlichen Demokratien, mit Ausnahme der chinesischen Stadt Chengdu.
Die Autoren verglichen das Ausmaß an antisozialer Bestrafung in den einzelnen Ländern mit bestimmten Maßen, die zur Kennzeichnung von gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Unterschieden gebräuchlich sind. Sie kommen dabei zu dem Schluss, dass antisoziale Bestrafung vor allem in Gesellschaften vorkommt, in denen das Vertrauen der Bevölkerung in die staatliche Ordnung gering und man im alltäglichen Umgang gegenüber Fremden eher misstrauisch ist (vgl. Herrmann et al., 2008). (**)


Derartige Unterschiede lassen sich natürlich auch innerhalb einer Gesellschaft feststellen. Wenn man sich die aktuellen „Querdenken-Demonstrationen“ anschaut, dürfte die Vermutung, dass bei den Teilnehmenden das Vertrauen in die staatliche Ordnung gering ist, wohl zutreffend sein.

Tagesschau

Abb. 4: Deutschlandtrend Extra v. 5.11.2020 ARD Tagesschau

Obwohl die überwiegende Mehrheit der Deutschen die einschränkenden Coronaregeln befürwortet, gingen für 24 Prozent die neuen Maßnahmen „zu weit“. Interessanterweise entspricht dies ungefähr den Anteilen von Freeridern in Studien zu Public-Goods-Games in westeuropäischen Ländern (vgl. Heidbrink, 2008, S. 137).
Natürlich ändert sich der Anteil der Freerider mit den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen und den jeweilig in Frage stehenden Regeln. Mit einem mehr oder weniger hohen Prozentsatz an Trittbrettfahrern müssen wir jedoch immer rechnen. Die meisten Gesellschaften tun dies auch: Steuerzahler werden von Finanzämtern, der Straßenverkehr durch die Polizei überprüft und sanktioniert. Wenn der Staat die Einhaltung bestimmter Regeln weder überprüft noch ihre Verletzung bestraft, werden diese über kurz oder lang von vielen nicht mehr beachtet.


Tit-for-Tat

Wir haben gesehen, dass dies nicht am mangelnden guten Willen der Mehrheit liegt, sondern am Ärger über den Unwillen einer Minderheit. Evolutionär hat sich „Tit-for-Tat“ (Wie du mir, so ich dir) als erfolgreiche Strategie erwiesen (vgl. Heidbrink, 2008, S. 141).
In der Spielbedingung ohne Bestrafung führt Tit-for-Tat langsam aber sicher zum Erlöschen der Kooperation, da der am wenigsten kooperative Spieler jeweils die Obergrenze des Gemeinschaftsbeitrages bestimmt. In der Bestrafungsbedingung wird nun genau dieser Mechanismus unterbrochen. Allerdings muss der jeweils Geizigste von Zeit zu Zeit erneut bestraft werden, damit nicht wieder eine neue »Abwärtsrunde« die Kooperationsbereitschaft sinken lässt.

Fromme Wünsche

Was wird die Kooperation in Zeiten von Corona aufrecht erhalten und dauerhaft stabilisieren? Die Hoffnung vieler Politiker, man müsse nur die Regeln immer wieder erklären und „alle mitnehmen“, bleibt ein frommer, leider lebensfremder Wunsch. Ohne Kontrollen und Sanktionen verlieren die Bürger das Vertrauen in den Staat: Eigennutz, Egoismus und Aggressivität werden auf Kosten der Solidarität und Kooperation wachsen.


Quellen

Fehr, E. & Gächter, S. (2002). Altruistic punishment in humans. Nature, 415, 137–140.

Gächter, S. (2006). Conditional cooperation: Behavioral regularities from the lab and the field and their policy implications. CeDEx Discussion Paper Series 2006–03, University of Nottingham.

Heidbrink, H. (2008). Einführung in die Moralpsychologie. 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Weinheim: Beltz.

Herrmann, B., Thöni, C. & Gächter, S. (2008). Antisocial punishment across societies. Science, 319 (5868), 1362–1367.

Anmerkung

(*) Veröffentlicht am 13.11.2020, aktualisiert am 19.9.2021

(**) Hieraus sollte man allerdings nicht voreilig den Schluss ziehen, dass in diesen Ländern die Bereitschaft zur Kooperation generell geringer ist. Die Zusammenhänge scheinen komplizierter zu sein (vgl. Heidbrink, 2008, S. 134f).

Wissenschaftskritik in der Corona-Krise

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Allgemein / Psychologie
Sars-CoV-2

Corona-Krise: Die anfänglich positive Stimmung gegenüber der Wissenschaft verschlechtert sich zunehmend. Virologen und Epidemiologen werden beschuldigt, sich ständig zu korrigieren, sich gegenseitig zu widersprechen und letztlich doch nichts Genaues zu wissen. Ich kann mich nicht erinnern, dass sich so viele Leute für wissenschaftliche Studien interessiert haben wie gegenwärtig. Angesichts der Bedrohung durch die Corona-Pandemie ist das große Interesse an einschlägigen Studien natürlich verständlich. Zwischen den Erwartungen an die Wissenschaft und deren Resultaten scheinen allerdings immer größere Diskrepanzen zu entstehen. Die Wissenschaftskritik beruht nicht zuletzt auf Missverständnissen über das Wesen wissenschaftlicher Forschung. 

Politik und Wissenschaft

Zu Beginn der Corona-Krise schien die Arbeitsteilung zwischen Politik und Wissenschaft relativ klar zu sein. Die medizinische Wissenschaft beriet die Politik über die Ausbreitung des Virus und die Möglichkeiten, die exponentielle Steigerung der Infektionen zu bremsen, also die „Kurve abzuflachen“ (flatten the curve). Dies war notwendig, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten und moralisch unhaltbare Zustände wie in Italien (Triage) zu vermeiden. Die Politik folgte den Ratschlägen der Wissenschaft, die allerdings nicht immer eindeutig waren. Trotzdem konnte die durch die Medien informierte Bevölkerung die wissenschaftlichen Empfehlungen und die politischen Entscheidungen nachvollziehen – so jedenfalls der wiederum von den Medien vermittelte Eindruck.

Mittlerweile ist die Abflachung der Kurve gelungen, eine Überlastung der Intensivstationen konnte erfolgreich vermieden werden. Als Folge dieser Erfolge diskutiert nun die gesamte Republik über Lockerungen der Corona-Einschränkungen. Die anfängliche Einigkeit scheint verloren gegangen zu sein. Die Politik streitet sich über die Zweckmäßigkeit bzw. Angemessenheit der nächsten Lockerungen, auch die Medien und die Bevölkerung scheinen sich in zwei Lager zu spalten. Das eine befürwortet weiterhin die Einschränkungen, das andere hält Lockerungen für längst überfällig. Entscheidungen werden zunehmend in den Bundesländern getroffen, die zentrale Koordinierung durch den Bund schwindet exponentiell.

Wissenschaftskritik

Und die Wissenschaft? Die anfängliche Bewunderung scheint sich bei vielen in Skepsis zu verwandeln. Politiker, die sich wochenlang mit einem Hausvirologen schmückten, ärgern sich öffentlich über die „täglich wechselnden Zahlen“. Andere kritisieren das Robert-Koch-Institut: Dessen Zahlen vermittelten „eher den Eindruck, politisch motivierte Zahlen zu sein als wissenschaftlich fundiert”, so Bundestagsvizepräsident W. Kubicki am 28.4.2020  (RND v. 28.4.2020).

In den sozialen Netzwerken trübt sich die anfänglich positive Stimmung gegenüber den Virologen und Epidemiologen zunehmend ein. Sie werden beschuldigt, andauernd neue Maßzahlen zu präsentieren, sich zu widersprechen und Vieles gar nicht zu wissen. Verschwörungstheorien machen sich breit, nach denen bestimmte Politiker und Wissenschaftler das gesamte Land absichtlich lahmlegen würden.

Zwei Beispiele

Zwei Tweets des Virologen Christian Drosten auf Twitter sorgten für große Aufregung. Am 29.4. veröffentlichte Drosten einen Preprint einer eigenen Studie, die auf eine vergleichbar große Viruslast bei infizierten Kindern und Erwachsenen hinwies. Am folgenden Tag folgte der Verweis auf eine chinesischer Studie, nach der die tatsächliche Ansteckungsgefahr bei Kindern bis 14 Jahre deutlich geringer sei als bei Erwachsenen.

Zwei sichtlich verärgerte Antworten auf Christian Drosten, allerdings nicht von Fachkollegen, die eigentlich angesprochen werden sollten:

Wissenschaftskritik auf Twitter
Wissenschaftskritik auf Twitter

Wer sich für weitere Reaktionen auf diese beiden Tweets interessiert, mag sie auf Twitter nachlesen. Zum jeweiligen Hintergrund der beiden Studien hat sich Drosten in seinem Podcast am 30.4.2020 ausführlich geäußert.

In der Talkshow „Lanz“ vom 30.4.2020 erklärte der Unternehmer Peter Schwenkow, dass sich seine Frau aufgrund einer epidemiologischen Studie entschieden habe, auf ihre beiden Enkel aufzupassen. Nun sei eine weitere Studie erschienen, die die Ansteckungsgefahr von Kindern weitaus höher einschätze und nun wisse weder er noch seine Frau, was sie machen sollten. 

Die anwesende Virologin Melanie Brinkmann schien verblüfft und fragte ihn, ob seine Familie ihr Verhalten wirklich an den Ergebnissen einzelner Studien ausrichten würde.

Alltagserfahrung vs. wissenschaftliche Erfahrung

Diese beiden Beispiele illustrieren die unterschiedlichen Sichtweisen und Erwartungen von Wissenschaftlern und Nicht-Wissenschaftlern. 

Unsere Alltagserfahrung lehrt uns, dass Personen, die häufig ihre Meinung wechseln, wenig vertrauenswürdig sind. Was sollen wir glauben, wenn jemand heute dies und morgen jenes behauptet?

In der Wissenschaft sind unterschiedliche Ergebnisse von Studien nicht ungewöhnlich, sondern alltäglich. Besonders wenn sich Fragestellungen und/oder Methoden unterscheiden, sind Unterschiede in den Ergebnissen zu erwarten. Erst aufgrund einer Vielzahl von Studien zu einem bestimmten Untersuchungsbereich können einigermaßen sichere Schlussfolgerungen gezogen werden. „Einigermaßen sicher“ bedeutet gleichzeitig, dass eine letzte Sicherheit in der empirischen Wissenschaft nie zu erreichen ist. Es ist eine wissenschaftstheoretische Binsenweisheit, dass wir uns wissenschaftlich der Wahrheit immer nur annähern können, sie aber nie gänzlich erreichen werden (Kritischer Rationalismus). 

Methodisch versucht man in den empirischen Wissenschaften Hypothesen also immer zu widerlegen, da man sie aus logischen Gründen nicht beweisen kann. Je häufiger diese Widerlegung missglückt, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Hypothese zutrifft. Letztlich schließt aber auch eine derartige „Bewährung“ nicht aus, dass sich irgendwann in der Zukunft unsere Annahmen als falsch erweisen könnten.

Wissenschaft ist also nicht unfehlbar. Ganz im Gegenteil: Fehlbarkeit ist ein immanentes Merkmal wissenschaftlichen Arbeitens. Unfehlbarkeit mag ein Merkmal von Glaubenssätzen sein, die sich durch ihre Unwiderlegbarkeit auszeichnen. Annahmen, die wir nicht widerlegen können, müssen deswegen nicht falsch sein. „Gott hat die Welt erschaffen“, ist eine Annahme, die wir nicht widerlegen können. Sie mag richtig oder falsch sein, auf keinen Fall handelt es sich um eine wissenschaftliche Aussage.

Welche Schlussfolgerungen können wir nun ziehen?

Wenn wissenschaftliche Erkenntnisse immer fehlerbehaftet sein können, warum sollten wir ihnen vertrauen? Vor allem, wenn es um Leben und Tod geht? Oder unsere wirtschaftliche Existenz?

So gestellt macht diese Frage leider wenig Sinn. Es gehört ja gerade zu den Errungenschaften der modernen Wissenschaften, dass sie ihre „Unsicherheiten“ offenlegen. Statistische Verfahren, die in den wissenschaftlichen Ergebnisdarstellungen wissenschaftlicher Studien meist einen breiten Raum einnehmen, sollen jeweils eine Einschätzung ermöglichen, wie groß die Sicherheit bzw. Unsicherheit der gewonnenen Erkenntnisse ist. Hier – und nicht in den Zusammenfassungen (Abstracts) – können andere Wissenschaftler erkennen, wie vertrauenswürdig die Ergebnisse sind.

Natürlich sagen nicht nur die statistischen Kennwerte etwas über die Seriosität und Bedeutsamkeit von Studienergebnissen aus. Nur wenn eine Studie insgesamt sinnvoll angelegt ist und den Kriterien ihres Faches entspricht, ergeben die Ergebnisse überhaupt erst einen Sinn.

Daher ist es auch fast unmöglich, dass Wissenschaftler die Qualität einer komplexen Studie eines anderen Faches einschätzen können. Aus diesem Grund werden Studien vor ihrer Veröffentlichung in wissenschaftlichen Zeitschriften auch von fachlich kompetenten anderen Wissenschaftlern begutachtet.

Ich will und kann also die Qualität und Aussagekraft einzelner virologischer und epidemiologischer Studien nicht beurteilen. Dies ist der einschlägigen Scientific Community vorbehalten.

Empfehlungen

Die erste Empfehlung bezieht sich auf die Kommunikation der sogenannten „Heinsberg-Studie“, die ja schon hinsichtlich der Vorveröffentlichung von Zwischenergebnissen in die Kritik geraten ist.

Am 4.5.2020 sagte Hendrik Streeck im Heute-Journal zum Abschluss der Präsentation der Ergebnisse der Heinsberg-Studie auf die Frage von Klaus Kleber, ob er denn nun weitere Lockerungen befürworten könne oder nicht:

„Ich bin Virologe und Infektionsepidemiologe, ich kann keine Empfehlungen abgeben, keine Empfehlungen an die Politik geben. Das ist wirklich eine Aufgabe der Politik und der Gesellschaft, diese Daten, diese Studie zu beurteilen, sie mit einzubeziehen in die Entscheidungen. Aber ich werde mich hüten, da eine Aussage zu treffen – oder eine Empfehlung darauf basierend aussprechen.“ (Heute Journal vom 4.5.2020).

ZDF Heute Journal vom 4.5.2020

So nachvollziehbar diese Reaktion nach den bisherigen Versuchen einer politische Einvernahme gerade seiner Person in NRW auch sein mag, der Wissenschaft und insbesondere seiner Disziplin tut Streeck hier keinen Gefallen. 

Wenn seine Daten weder für noch gegen schnelle weitere Lockerungen sprechen, dann sollte er dies entweder offen sagen – oder auf einen Auftritt in einer zentralen politischen Nachrichtensendung verzichten. Es ist natürlich nicht die Aufgabe der Politik und der Gesellschaft, die von ihm erhobenen Daten zu beurteilen und zu interpretieren. Dies ist zunächst eine genuin wissenschaftliche Aufgabe. Die Ergebnisse einer Studie müssen dann so aufbereitet und präsentiert werden, dass die Politik überhaupt eine Chance bekommt, sie in ihre Entscheidungen einzubeziehen. 

Tatsächlich ist es nicht die Aufgabe eines Virologen, politische Entscheidungen zu treffen. Aber dies ist ja eine Binsenweisheit. 

Föderalismus als wissenschaftliche Chance

Abschließend noch ein konkreter Vorschlag in Hinblick auf die weiteren Lockerungen! Da das Ende gemeinsamer Schritte der Bundesländer mittlerweile offensichtlich ist, sollte man die jetzigen „Alleingänge“ wissenschaftlich nutzen. Es gibt viele offene Fragen: So wissen wir nicht, wie und in welcher Reihenfolge wir Kitas, Grundschulen und weiterführende Schulen am sinnvollsten öffnen, welche Hygienemaßnahmen sinnvoll und welche überflüssig sind. Diese Fragen können in verschiedenen Szenarien in unterschiedlichen Bundesländern in wissenschaftlich sinnvoll abgestimmter Weise empirisch geprüft werden. Dies gilt nicht nur für Kitas und Schulen, sondern auch für Gaststätten, Hotels, Konzertsäle und alle anderen bislang geschlossenen oder eingeschränkten Bereiche.

Virologen und Epidemiologen müssten hierzu sinnvolle Untersuchungspläne erarbeiten, die dann von den Bundesländern umgesetzt werden könnten. 

Natürlich würde dies nicht zu bundeseinheitlichen Vorgehensweisen führen, aber die Unterschiede wären nicht willkürlich, sondern geplant. Sie würden uns allen wichtige Erkenntnisse für weitere Entscheidungen liefern. 

Bildnachweis: Bildblog v. 5.5.2020 auf Twitter
https://twitter.com/BILDblog/status/1257726482291527682 

Moralpsychologie in Zeiten von Corona (Teil II)

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Psychologie
Sars-CoV-2

Im vorigen Beitrag habe ich mich mit den dramatischen Fragen der Triage beschäftigt. Im Moment hoffen wir alle, dass unser Gesundheitssystem dem Ansturm von Corona-Patienten standhält und es keine tödliche Konkurrenz um Intensivbetten geben wird.

Stattdessen diskutiert die ganze Republik die ersten Schritte einer vorsichtigen Lockerung der bisher geltenden Pandemie-Einschränkungen.

Bei diesen Diskussionen kann man die unterschiedlichen und häufig kontroversen Argumente grob drei unterschiedlichen Bereichen zuordnen: (1) dem Bereich der Wissenschaft, (2) dem Bereich der Politik und (3) dem Bereich der Moral.

1. Die Wissenschaft

Schauen wir zunächst auf die wissenschaftlichen Argumente, die vor allem aus dem medizinischen Bereich der Virologie und Epidemiologie kommen. Wie werden sich bestimmte Lockerungen (Öffnungen von Geschäften, Kirchen, Schulen, etc.) auf den Fortgang der Infektionen auswirken? Werden wichtige Kennzahlen (R) weiter sinken oder plötzlich wieder ansteigen? Können wir die Infektionskurve flach halten oder wird sie durch die Lockerungen wieder schnell ansteigen? Hierzu gibt es eine zunehmende Zahl wissenschaftlicher Studien, die beispielsweise aufgrund epidemiologischer Modellierungen Prognosen ermöglichen.

Die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen haben massive Auswirkungen auf die Wirtschaft und die gesamte Gesellschaft. Ökonomen versuchen das Ausmaß der wirtschaftlichen Schäden zu schätzen, viele andere Wissenschaften analysieren weitere gesellschaftliche Auswirkungen. Von der Pandemie ist neben dem Gesundheitssystem vor allem auch das Bildungssystem betroffen. 

Die Einschränkungen sollen die Ausbreitung des Virus eindämmen, die Lockerungen die negativen Nebenwirkungen des Lockdowns mildern und langsam wieder zu einer „neuen Normalität” führen, also zu einer Normalität mit der Pandemie. 

Ist es angemessen, dass nur Geschäfte bis zu einer Größe von 800 qm öffnen dürfen? Ist es nicht ungerecht, dass Restaurants und Cafés immer noch geschlossen bleiben müssen? Warum dürfen Autohäuser öffnen, Möbelgeschäfte aber nicht – es sei denn, sie befinden sich in NRW? Ist es richtig, dass die Schulen schrittweise wieder geöffnet werden, die Kitas aber weiterhin geschlossen bleiben? 

2. Die Politik

Auf viele diese Fragen gibt uns die Medizin bislang keine eindeutigen Antworten. Die Entscheidungen für bestimmte Lockerungen (und gegen andere) sind also politische Entscheidungen. Vordergründung bedeutet dies ja nur, dass es sich um Entscheidungen handelt, die von Politikern bzw. politischen Instanzen getroffen werden. Gleichzeitig implizieren politische Entscheidungen immer auch bestimmte Wertentscheidungen. Offenbar sind im Moment Autohäuser wichtiger als Möbelgeschäfte. Virologen haben diesbezüglich wohl keine Präferenzen – dem Virus ist es egal, ob es sich in Auto- oder Möbelhäusern verbreiten kann. In NRW darf es sich in beiden Häusern verbreiten, weil die Möbelindustrie hier wirtschaftlich besonders wichtig ist.

Es handelt sich also um eine Wertentscheidung: Der Schaden durch einen weiteren Stillstand der Möbelsparte wird in diesem Bundesland offenbar höher eingeschätzt als die Risiken durch zusätzliche Infektionen.

3. Die Moral 

Politische Entscheidungen und ihre Begründungen besitzen einen „moralischen Kern”, da sie in ihren Konsequenzen Auswirkungen auf das Wohlergehen oder sogar das Leben der Bürger haben. 

In den Diskussionen über die Pandemie wird immer betont, dass die Sorge um die Gesundheit an erster Stelle stehen müsse. Aus medizinischer Sicht ist dies selbstverständlich, es wird aber auch von Seiten der Politik und auch der Wirtschaft betont. Wenn dies allgemeiner Konsens ist, müssten dann nicht alle Entscheidungen immer zugunsten eines strikten Schutzes vor Infektionen getroffen werden? 

Offenbar ist die Situation komplizierter als sie zunächst erscheinen mag. So stehen sich Gesundheitsfürsorge und Wirtschaft nicht gegenüber, sondern sind – und hierauf haben Wirtschaftswissenschaftler frühzeitig hingewiesen – eng miteinander verflochten. Wenn uns die Gesundheit wichtig ist, dann müssen wir Menschen nicht nur vor dem Virus schützen, sondern auch vor Gefährdungen, die durch wirtschaftliche Notlagen hervorgerufen werden. Also: Was macht es für einen Sinn, wenn wir jemanden vor der Virusinfektion schützen, aber nicht vor der finanziellen Pleite, die ihn am Leben verzweifeln lässt?

Vielleicht denken Sie jetzt, dass derartige Abwägungen ja richtig sein mögen, letztlich aber doch die Erhaltung und Rettung von Menschenleben die höchste Priorität haben muss. Allerdings gilt weder bei uns noch in anderen Gesellschaften diese Priorität uneingeschränkt.

So stellt der Deutschen Ethikrat in seiner Empfehlung zur Corona-Krise fest: „Auch der gebotene Schutz menschlichen Lebens gilt nicht absolut. Ihm dürfen nicht alle anderen Freiheits- und Partizipationsrechte sowie Wirtschafts-, Sozial- und Kulturrechte bedingungslos nach- bzw. untergeordnet werden. Ein allgemeines Lebensrisiko ist von jedem zu akzeptieren“ (Ethikrat, 2020).

Es werden keineswegs alle Menschen gerettet, die wir retten könnten. Jährlich sterben tausende Menschen bei Autounfällen, trotzdem verbieten wir Autos nicht. Noch mehr Personen dürften durch Rauchen oder Alkohol sterben. Auch in diesen Bereichen haben wir allenfalls vorsichtige Einschränkungen, aber keine strikten Verbote. Die sog. Widerspruchslösung bei der Organspende wurde vom Bundestag 2019 mehrheitlich abgelehnt, obwohl mit ihr sicherlich mehr Menschenleben gerettet worden wären als mit der beschlossenen „erweiterten“ Zustimmungslösung. Wäre die Widerspruchslösung moralisch nicht besser gewesen?

Was ist eigentlich „gut“?

Um in diesem Punkt etwas mehr Klarheit zu gewinnen, müssen wir uns einen Augenblick mit der Frage beschäftigen, was mit den Wörtern „gut” bzw. „besser” eigentlich gemeint ist. Wenn mir mein Arzt sagt, es wäre „gut”, wenn ich mich streng an alle Kontaktbeschränkungen halte, so meint er hiermit genau genommen Folgendes: „Es ist gut für Sie, falls Sie in erster Linie gesund bleiben wollen” (Spaemann, 1982).

Der Arzt beurteilt „gut” in Hinblick auf Gesundheit, er kann aber als Arzt nicht darüber urteilen, wie wichtig mir selbst meine Gesundheit ist. 

Dies gilt natürlich auch für Politiker, die älteren Menschen empfehlen oder sogar vorschreiben, sich nicht mehr mit ihren Kindern oder Enkeln zu treffen. Sie halten dies für „gut” in Bezug auf den Gesundheitsschutz  für besonders gefährdete Personengruppen. 

Bei all diesen Ratschlägen bezieht sich das Wort „gut” immer darauf, dass etwas für irgend jemanden in einer bestimmten Hinsicht gut ist. „Gut” wird hier also nicht in einem moralischen Sinn definiert, sondern in Bezug auf eine Mittel-Zweck-Relation. Erst wenn zwischen Interessen oder Gesichtspunkten ein Konflikt auftaucht, bekommt das Wort „gut” einen absoluten (deontischen) Sinn, man muss entscheiden, was „eigentlich und wirklich” gut ist (vgl. Spaemann, 1982).

Mittel zum Zweck

Politisch Entscheidungen wägen also immer zwischen unterschiedlichen Gesichtspunkten und Interessen ab. Ob diese Entscheidungen (im instrumentellen Sinn) gut oder schlecht sind, hängt davon ab, ob sie zu den gewünschten Ergebnissen führen, also die eingesetzten Mittel tatsächlich den festgelegten Zweck  erreichen. In der gegenwärtigen Krise können uns die medizinischen Experten noch am besten sagen, welche Maßnahmen sich wie auswirken werden. Die letzten Wochen haben allerdings gezeigt, dass sich die medizinischen Experten immer wieder revidieren mussten. Auch waren sie sich mit ihren Ratschlägen nicht immer einig.

Bislang war der Zweck aller Maßnahmen eine Abflachung der Infektionskurve, um unser Gesundheitssystem nicht zu überlasten, also z. B. genügend Beatmungsplätze für die schweren Fälle zu haben. Gleichzeitig war aber von vornherein klar, dass es trotzdem zu vielen Todesfällen kommen würde, da sich viele Schwererkrankte auch intensivmedizinisch nicht würden retten lassen.

Eine völlige Vermeidung von Todesfällen ist bislang (ohne Impfungen und wirksame Medikamente) nicht möglich. Die Diskussion um die sog. „Übersterblichkeit“ in den Medien und den sozialen Netzwerken zeigt, dass es mittlerweile viele gibt, die Todesfälle durch das Virus durchaus akzeptieren, wenn (und dies scheint bislang der Fall zu sein) vor allem sehr alte Personen bzw. Personen mit deutlichen gesundheitlichen „Vorschädigungen“ betroffen sind. 

Der 80jährige Besitzer der Restaurantkette „Blockhouse“ Eugen Block machte gegenüber dem SPIEGEL (17.4.2020) seinem Ärger über die deutsche Regierung Luft, insbesondere über den Gesundheitsminister Jens Spahn.

Restaurantkettenbesitzer Eugen Block im SPIEGEL (17.4.2020)

So oder ähnlich argumentieren viele: „Warum sollen wir die gesamte Wirtschaft zerstören, wenn das Virus nicht mehr Personen tötet als sowieso in diesem Jahr gestorben wären?“ Oder: „Warum sollen wir die gesamte Wirtschaft zerstören, wenn das Virus nicht mehr Personen tötet als in manchen Jahren durch eine Virusgrippe sterben?“

Vielleicht finden Sie diese Argumente moralisch empörend. Trotzdem können wir sie nicht einfach von der Hand weisen. Versuchen wir hierzu eine Rechnung, wie viel uns ein Menschenleben wert sein darf.

Wenn man annimmt, dass unsere Wirtschaft durch den Lockdown einen Schaden von einer Billion Euro erleidet und ohne den Lockdown ca. 100.000 Personen zusätzlich gestorben wären, dann hätten wir für deren Rettung pro Person ca. 10 Millionen Euro aufgewendet.

Steht dieser Aufwand in irgendeinem Verhältnis zum Wert des menschlichen Lebens? Kann und darf man den Wert des menschlichen Lebens berechnen? Immanuel Kant hat dies bestritten, Ökonomen tun es trotzdem (einen kurzen Eindruck vermittelt die Forbes-Grafik vom 27.3.2020).

Unterschiedliche Quantifizierungen des menschlichen Lebens (Forbes-Grafik, 27.3.2020)

Die Problematik der Berechnung des ökonomischen Wertes von Menschenleben haben Benjamin Bidder am 14.4.2020 im SPIEGEL und Katrin Zeug auf Zeit Online am 23.1.2018 dargelegt. Aus philosophischer Sicht erklärte Volker Gerhardt mit Rückgriff auf Immanuel Kant in der Süddeutschen Zeitung am 17.5.2020, ob man ein Leben mit Geld aufwiegen kann.

Trotz aller philosophischen Skrupel gegenüber solchen Berechnungen denken Sie vielleicht, dass 10 Millionen zur Rettung eines Menschen, der womöglich bereits über 80 Jahre alt ist, doch deutlich zu viel sind.

Oder Sie denken, dass es nur darauf ankommt, ob unsere Gesellschaft diese Kosten ohne bleibende Schäden tragen kann. 

Vielleicht haben Sie erkannt, dass die obige Berechnung völlig falsch ist. Dass sie von falschen Zahlen ausgeht und keineswegs als Grundlage einer moralischen Bewertung dienen kann.

Tatsächlich habe ich die Zahlen ziemlich frei erfunden. Sie können also völlig falsch sein. Ich weiß es nicht. 

Warum dann dieses Beispiel? Es soll stellvertretend zeigen, dass es in der gesamten Diskussion über das Für und Wider von Pandemie-Maßnahmen eine Vermischung von Sachargumenten und moralischen Bewertungen gibt. 

Moralische Bewertung von Argumenten

Wenn Sie sich fragen, wie Sie Pro- und Contra-Argumente im Rahmen der Pandemie-Maßnahmen bewerten sollen, müssen Sie zunächst prüfen, ob die Argumente sachlich überhaupt stichhaltig sind. Welche Annahmen sind wissenschaftlich begründet, zu welchen gibt es bislang keine wissenschaftlichen Studien, welche sind aus wissenschaftlicher Sicht unsinnig? 

Woher sollen Sie das wissen? Alle Informationen finden sich in seriösen Quellen im Netz. Wenn Sie weder Zeit noch Lust haben, sich zu informieren, dann kann ich Ihnen nur die beiden folgenden Regeln empfehlen. 

1. Je restriktiver die Einschränkungen, desto niedriger die Anzahl der Toten und desto höher der wirtschaftliche und gesellschaftliche Schaden.

2. Je schneller und umfassender die Lockerungen, desto höher die Anzahl der Toten und desto geringer der wirtschaftliche Schaden. 

Wenn Leute behaupten, dass man auch beides erreichen könne, also umfassende Lockerungen ohne eine Erhöhung der Todesrate, glauben Sie ihnen nicht! Schauen Sie sich stattdessen die folgenden Abbildungen der New York Times vom 21.4.2020 zur bereits jetzt feststellbaren Übersterblichkeit in vielen Ländern an!

Übersterblichkeit in unterschiedlichen Ländern (New York Times, 21.4.2020)

Falls Sie für die zweite Regel plädieren, sollten Sie allerdings bedenken, dass dieses Vorgehen möglicherweise die Wirtschaft am nachhaltigsten schädigt. Jedenfalls dann, wenn man aufgrund einer zu hohen Todesquote einen zweiten Lockdown anordnen muss. 

Reise nach Jerusalem 

Es gibt eine gute Möglichkeit um zu prüfen, welcher Lösung man bei einem moralischen Problem zustimmen sollte: die Reise nach Jerusalem! Hierbei wird von jeder Person verlangt, abwechselnd den Platz jedes anderen einzunehmen und das moralische Problem aus dessen Perspektive zu beurteilen. Mit dem alten Kinderspiel gleichen Namens hat diese Methode also nur im übertragenen Sinne etwas zu tun.

Wenn es um eine schnelle Öffnung von Gaststätten geht, dann kann man gedanklich die Wirtin, die Kellner, die Stammgäste, aber auch die Familienmitglieder der Gäste auftreten lassen. Sie müssen zunächst eine Lösung finden, erst danach wird Ihnen Ihre Rolle zugewiesen. Sie wissen also noch nicht, ob Sie die Wirtin, der Kellner oder der Großvater Ihrer Stammgäste sein werden. Vielleicht sollten Sie auch den Finanzminister mit in die Reihe der Betroffenen einbeziehen.

Wenn es um das eigene Verhalten in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten geht, dann können Sie überlegen, ob Sie und ihre Familie die Abstands- und Kontaktbeschränkungen sorgsam einhalten werden. Werden Sie die Kinder von den Großeltern fernhalten, Treffen mit den Freunden unterlassen? Wenn Sie bereits Enkel haben, werden Sie auf den Kontakt zu ihnen verzichten? Welche die Regeln werden Sie einhalten, welche werden Sie ignorieren? Aus welchen Gründen? 

Prüfen Sie also jeweils, in welcher Rolle Sie von einer Entscheidung profitieren und in welcher Sie sich ernsthaften Risiken aussetzen.

Finden Sie jeweils Lösungen, mit der Sie aus jeder Position einverstanden sein können? 

Bildnachweis
Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File:SARS-CoV-2_without_background.png
Quellen
Spaemann, R. (1982). Moralische Grundbegriffe. München: C. H. Beck

Moralpsychologie in Zeiten von Corona

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Psychologie
Triage WWI

Moralische Dilemmata, in denen es um Leben und Tod geht, schienen bislang für die meisten von uns fiktive Probleme von Moralphilosophen oder Moralpsychologen zu sein. Darf ich ein für mich unbezahlbares Krebsmittel stehlen, um meine Frau zu retten? Soll man eine Weiche umstellen, damit ein Güterzug nur eine Person und nicht fünf tötet? 

Plötzlich wird uns durch ein Virus deutlich, dass diese Fragen sich direkt vor unserer Haustür stellen können. Dass nicht nur „Heinz“ mit ihnen konfrontiert ist, sondern wir alle. Wir müssen plötzlich unser eigenes Verhalten rigoros verändern, zu unserem eigenen Schutz und zum Schutz von Verwandten, Freunden, Bekannten und Nachbarn – aber auch zum Schutz von Menschen, die uns völlig unbekannt sind. 

Viele müssen jetzt entscheiden, was für sie an erster (zweiter, dritter …) Stelle steht: die eigene Gesundheit, das Wohlergehen der Familie, die Hilfe für Nachbarn, für besonders gefährdete Menschen. Darf der Opa noch auf das geliebte Enkelkind aufpassen? Oder ist es rücksichtslos, ihn einer zusätzlichen Gefährdung auszusetzen? Soll der Vater nicht zur Arbeit gehen, obwohl er Krankenpfleger ist? Soll die Ärztin für ihr Kind einen Notplatz in der Kita beanspruchen, obwohl sie weiß, dass es bei den gesunden Großeltern gut aufgehoben wäre?

Plötzlich ergibt sich eine Vielzahl von Problemen, für die wir keine routinemäßigen Lösungen haben. Bei denen wir uns Gefahren ausgesetzt sehen, deren Risiken wir weder präzise einschätzen noch gegeneinander abwägen können. Nahezu stündlich bekommen wir neue Informationen über die Infektions- und Todeszahlen. Das Virus rückt unaufhaltsam näher, in unser Land, in unsere Stadt, in unseren Wohnbezirk, in unsere Straße.

Viele Menschen bieten plötzlich ihre Hilfe an. Sie kaufen für diejenigen ein, die dies nicht mehr selbst können bzw. dürfen. Natürlich gibt es auch Personen, die die aktuelle Notlage ausnutzen. Schutzmasken kosten plötzlich das Hundertfache des Preises von vor ein paar Wochen. Große Konzerne stoppen ihre Mietzahlungen aufgrund eines neuen Gesetzes, das gar nicht für sie gedacht war.

Desinfektionsmittel werden in Kliniken unerlaubt entwendet, Friseure suchen ihre Kunden zuhause auf und übertragen so vielleicht das Virus in viele Haushalte (oder auch nicht).

Wenn wir, wie manche Politiker sagen, im Krieg gegen das Virus sind, dann zeigen sich schon jetzt die „Kriegsgewinnler“, die die Not der anderen skrupellos ausnutzen. 

Was denken die sich eigentlich? Ist es ihnen egal, wenn sich andere durch ihr Verhalten infizieren, vielleicht schwer krank werden oder sterben?  Was denke ich mir selbst, wenn ich heute mit einem leichten Kratzen im Hals einkaufen gehe? 

Empfehlungen des Deutschen Ethikrates

Am intensivsten sind im Moment Ärzte und Ärztinnen betroffen, die bald vor ähnlichen Problemen stehen könnten wie ihre italienischen Kollegen und Kolleginnen, die schon vor Wochen über Leben und Tod entscheiden mussten. Die dramatischen Fälle bei der sogenannten „Triage“ hat der Deutsche Ethikrat am 27. März 2020 beschrieben und bewertet.

In der ersten der beiden vom Ethikrat beschriebenen Problemsituationen (Triage bei Ex-ante-Konkurrenz) gibt es mehr Patienten als freie Beatmungsplätze. Die Ärzte müssen also entscheiden, wer von den Patienten ein Beatmungsgerät bekommt – und wer nicht. Patienten, denen die Behandlung vorenthalten wird, werden von den Ärzten nicht etwa durch Unterlassen getötet, sondern aufgrund „einer tragischen Unmöglichkeit vor dem krankheitsbedingten Sterben nicht gerettet“, so der Ethikrat 

Allerdings müssten bei der Entscheidung, wer diesen Platz bekommt, „unfaire Einflüsse“ ausgeschlossen werden, etwa solche im Hinblick auf „sozialen Status, Herkunft, Alter, Behinderung usw.“ („Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“; Ad-hoc-Empfehlung des Deutschen Ethikrates  vom 27.3.2020). 

Also darf auch das Alter kein Ausschließungsgrund sein (z. B. niemand über 80 Jahren bekommt einen Beatmungsplatz). Was könnten bei dieser Entscheidung also die „wohlüberlegten, begründeten, transparenten und möglichst einheitlich angewandten Kriterien“ sein? 

Aus medizinischer Sicht ist vor allem die Überlebenswahrscheinlichkeit, also die Chance auf einen positiven Erfolg der Beatmung, ein wichtiges Kriterium. Denkbar ist natürlich, dass bei der Abschätzung dieser Wahrscheinlichkeit einige der oben als irrelevant bezeichneten Kriterien eine indirekte Rolle spielen, da beispielsweise das Alter und bestimmte Behinderungen die Prognosen beeinflussen dürften.

 

Als noch problematischer beschreibt der Ethikrat eine Situation, in der alle Beatmungsplätze belegt sind. Wenn jetzt zusätzliche Patienten Beatmungsgeräte benötigen, stellt sich die Frage nach den verbleibenden ärztlichen Handlungsmöglichkeiten (Triage bei Ex-post-Konkurrenz). 

Reinhard Merkel, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie sowie Mitglied des Ethikrates, hat im ZDF am 31.3.2020 in der Sendung „Lanz“ diese Situation beispielhaft beschrieben: Darf man einen 80-jährigen Patienten vom Beatmungsgerät abhängen, wenn dieses dringend von einer 30-jährigen Mutter von kleinen Kindern benötigt wird? Er hat deutlich gemacht, dass dies rechtlich nicht erlaubt ist.

Wenn Ärzte trotzdem entscheiden, dass das Beatmungsgerät des 80jährigen Patienten für die 30jährige Mutter freigemacht wird, dann können sie allerdings mit „einer entschuldigenden Nachsicht der Rechtsordnung“ rechnen, also straffrei bleiben (Ethikrat, 2020)

Wonach würden Sie entscheiden? Würden Sie Beatmungsplätze tauschen – wenig aussichtsreiche gegen hoffnungsvollere Fälle? Strikte Altersbegrenzungen vorgeben wie es offenbar an einigen italienischen Kliniken gehandhabt wurde? 

Oder lässt sich dieses moralische Dilemma durch ein klares medizinisches Punktesystem für die Triage lösen? 

Am Klinikum Augsburg hat das Vorbereitungsteam für eine eventuelle Triage entschieden, „dass kein Intensivpatient sein Bett sicher haben wird, auch wenn das von Juristen wie dem ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes Hans-Jürgen Papier empfohlen wird, weil der Grundsatz der Gleichheit der Menschenwürde dies seiner Meinung nach erforderlich mache.“

„In Augsburg soll es nicht so sein wie in Italien – das Alter allein führt nicht zum Ausschluss. Konkurrieren zwei oder mehr Patienten um einen Platz, wird zuerst der Allgemeinzustand abgeklärt: ’Wie schnauft er, wie hoch ist sein Druck, wie steht er kognitiv da’, so Wehler (ärztlicher Leiter der Notaufnahme). Erst wenn es Prognosen für die Lebenserwartung gibt, erst wenn diese Zahlen identisch oder annähernd identisch sind, kommt das Alter ins Spiel“ (Der Spiegel 10.4.2020). 

Bei der Triage geht es um Menschenleben. Es soll nicht abgewogen werden, welches Menschenleben wichtiger ist, welches eher bzw. vorzugsweise gerettet werden soll, sondern welches mit höherer Wahrscheinlichkeit gerettet werden kann. Wir können also darauf vertrauen, dass es Lösungen für die Triage gibt, die zwar schmerzlich und bitter sind, aber trotzdem begründbar und nachvollziehbar.

Moralpsychologie

Die Moralpsychologie sagt uns nichts über die Ausbreitung von Viren oder die Verbreitungswege von Pandemien. Sie kann weder Ärzten und Ärztinnen noch dem Deutschen Ethikrat erklären, was jetzt moralisch richtig und was moralisch falsch ist. 

Die Moralpsychologie versucht zu erklären, warum Menschen unterschiedliche Entscheidungen für richtig halten und warum sie so handeln, wie sie handeln. Sie kann also helfen, andere und uns selbst besser zu verstehen. Wenn das gelingt, kommen wir vielleicht zu einer Änderung unserer Beurteilungen und möglicherweise sogar unseres Verhaltens. Oder wir fühlen uns in beidem bestätigt. Wir werden sehen!

Wie werden Personen, die sich auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen des moralischen Urteils, argumentieren, wenn es um Triage-Entscheidungen geht?

Stellen wir uns einen Arzt vor, der entscheiden soll, ob ein 55jähriger leicht übergewichtiger Mann oder eine 32jährige schwangere Frau das letzte freie Atmungsgerät bekommen sollen. Die Lösung scheint einfach zu sein: die schwangere Frau hat vermutlich die besseren Überlebenschancen, außerdem stehen hier zwei Leben auf dem Spiel. Bei dem Mann nur eines!

Für die Ärzte in Augsburg wäre die Situation eindeutig: „Klar ist jetzt auch die Stellung von Schwangeren in diesem Prozess. Bei intakter Schwangerschaft und gesundem Fötus wird die Schwangere bevorzugt behandelt, „denn es sind ja zwei Leben, die enden könnten“ (Der Spiegel, 10.4.2020).

Die Entscheidung scheint klar zu sein, unabhängig von ihrer Begründung: Wenn die Ärzte sich für die Schwangere entscheiden, handeln sie anhand vorgegebener Regeln, wohl auch in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung und juristisch unangreifbar.  

Diese Entscheidung entspricht bei den meisten von uns vermutlich auch der moralischen Intuition, also der Handlung, der wir ohne weitere Überlegung spontan zustimmen würden. 

Was ist aber, wenn wir jetzt die Information bekommen, dass es sich bei dem älteren Mann um den derzeitigen Premier des eigenen Landes handelt? Also um den zurzeit wichtigsten Politiker? Vielleicht denken Sie, dass dies keinen Unterschied machen darf. Der „soziale Status“ darf auch nach Meinung des deutschen Ethikrates keinen Einfluss auf die Entscheidung haben. Trotzdem sind Sie jetzt vielleicht unsicher. Ist der Premier eines Landes nicht einfach zu wichtig als dass man ihn einfach für einen „gewöhnlichen“ Menschen opfern darf? Bekommen die Ärzte, die sich gegen ihn entscheiden, nicht ernsthafte Probleme? Werden staatliche Stellen in diesem Fall nicht eingreifen, Druck ausüben? 

Wissen Sie jetzt, wie Sie sich entscheiden würden? Und hätten Sie mit dieser Entscheidung ein Problem? Wären Sie unsicher, ob Sie sich richtig entschieden hätten? Oder befürchten Sie, dass Sie bewusst eine falsche Entscheidung treffen würden? Aus Angst vor den möglichen Konsequenzen?

Moralische Urteilsstufen

Systematisieren wir die Entscheidungsmöglichkeiten nach den moralischen Urteilsstufen von Lawrence Kohlberg (https://www.heidsite.de/2016/09/29/moralentwicklung/):

  1. Lohn und Strafe

Die Dankbarkeit des Premiers dürfte den Ärzten sicher sein. Eine Belohnung also deutlich wahrscheinlicher als eine Bestrafung, wenn sie den Politiker retten!

  1. Zweckdenken

Eine Entscheidung gegen den Politiker dürfte sich kaum auszahlen – sie würde uns vermutlich schaden. Es sei denn, wir sind ihm in herzlicher Abneigung verbunden und wünschen nichts mehr als seine Abberufung. 

  1. Übereinstimmung mit anderen

Wohlweislich sollen Triage-Entscheidungen nicht von einem Arzt, sondern immer von mehreren getroffen werden. Wenn wir uns an der Meinung der anderen orientieren, sind wir es nicht allein, die verantwortlich sind bzw. nachträglich gemacht werden können. Wir schließen uns also der Gruppenmeinung an.

  1. Recht und Ordnung

Wenn uns als Arzt die Entscheidung über Leben und Tod überlassen wird, dann dürfen wir nicht unseren privaten Vorlieben, Meinungen oder Einstellungen folgen. Wir haben uns an verbindliche Regeln und Gesetze zu halten. Leider können die manchmal widersprüchlich sein. Die ärztlichen Triage-Regeln und der Ethikrat verlangen möglicherweise etwas anderes als staatliche Stellen, die uns auf die Rettung des Lebens des wichtigsten Politikers unseres Landes verpflichten wollen. Wir stehen vor einem ernsthaften Dilemma.

  1. Postkonventionelle Moral

Der Ethikrat verlangt von den Ärzten genaugenommen ein Urteil auf der Ebene der postkonventionellen Moral: Indem er die juristischen Vorgaben deutlich macht, aber gleichzeitig darauf verweist, dass es auch Gewissensgründe geben kann, diese nicht einzuhalten: „Wer in einer solchen Lage eine Gewissensentscheidung trifft, die ethisch begründbar ist und transparenten – etwa von medizinischen Fachgesellschaften aufgestellten – Kriterien folgt, kann im Fall einer möglichen (straf-)rechtlichen Aufarbeitung des Geschehens mit einer entschuldigenden Nachsicht der Rechtsordnung rechnen.“

Was bedeutet dies für unser Beispiel? Müssen wir auf der Ebene der postkonventionellen Moral den Regierungschef für die junge Mutter opfern? Oder müssen wir nicht gerade die möglichen gesellschaftlichen Konsequenzen berücksichtigen? Wenn in einer prekären gesellschaftlichen Krise von ungeahntem Ausmaß der wichtigste politische Lenker geopfert wird, kann dies unabsehbare Konsequenzen haben. Andererseits ist auch denkbar, dass die Bevorzugung des Politikers in der Bevölkerung breite Empörung auslösen könnte.  

Wie würden Sie entscheiden? Ich bin gespannt – Sie können sie gern in den Kommentaren dieses Blogs erläutern. Ich selbst bin hier übrigens weit weniger sicher als Sie vielleicht vermuten.

PS: Die meisten von uns sind keine Ärzte und mit dem Problem der Triage aktiv nicht betroffen (passiert hoffentlich auch nicht). Auch können wir im Moment die Hoffnung haben, dass die geschilderten Triage-Situationen hierzulande aufgrund unseres guten Gesundheitssystems und der bisherigen politischen Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen nicht eintreten werden.

Viele andere Entscheidungen, bei denen es auch um Leben und Tod gehen kann, treffen wir alle seit Wochen und wohl auch auf unabsehbare weitere Zeit. Dazu bald mehr – hier im Blog!

Bildnachweis: 
Triage: https://de.wikipedia.org/wiki/Triage#/media/Datei:Wounded_Triage_France_WWI.jpg Creative-Commons-Lizenz
Intensivstation: © Ad Meskens / Wikimedia Commons

Was ist ein moralisches Dilemma?

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Psychologie
Dilemma

Basiert das Theaterstück „Terror“ überhaupt auf einem echten moralischen Dilemma?

Im letzten Beitrag hier im Blog habe ich meine Zweifel geäußert, dass dem Theaterstück „Terror“ von Ferdinand von Schirach ein echtes moralisches Dilemma zugrunde liegt. Heute will ich Ihnen meine Zweifel näher erläutern:

Überlegen wir zunächst, was ein moralisches Problem zu einem moralischen Dilemma macht. Ein Dilemma ist im Gegensatz zu einem Problem prinzipiell nicht (optimal) lösbar. Ein moralisches Dilemma stellt uns vor zwei Handlungsmöglichkeiten, die beide zu deutlich negativen Konsequenzen führen.

Heinz-Dilemma

Eines der bekanntesten moralischen Dilemmata in der Moralpsychologie ist das sogenannte Heinz-Dilemma von Lawrence Kohlberg, in dem der Protagonist sich in einer besonders problematischen Lage befindet:

„In einem fernen Land lag eine Frau, die an einer besonderen Krebsart erkrankt war, im Sterben. Es gab eine Medizin, von der die Ärzte glaubten, sie könne die Frau retten. Es handelte sich um eine besondere Form von Radium, die ein Apotheker in der gleichen Stadt erst kürzlich entdeckt hatte. Die Herstellung war teuer, doch der Apotheker verlangte zehnmal mehr dafür, als ihn die Produktion gekostet hatte. Er hatte 200 Dollar für das Radium bezahlt und verlangte 2000 Dollar für eine kleine Dosis des Medikaments.

Heinz, der Ehemann der kranken Frau, suchte alle seine Bekannten auf, um sich das Geld auszuleihen, und er bemühte sich auch um eine Unterstützung durch die Behörden. Doch er bekam nur 1000 Dollar zusammen, also die Hälfte des verlangten Preises. Er erzählte dem Apotheker, dass seine Frau im Sterben lag, und bat, ihm die Medizin billiger zu verkaufen bzw. ihn den Rest später bezahlen zu lassen. Doch der Apotheker sagte: „Nein, ich habe das Mittel entdeckt, und ich will damit viel Geld verdienen.“ – Heinz hat nun alle legalen Möglichkeiten erschöpft; er ist ganz verzweifelt und überlegt, ob er in die Apotheke einbrechen und das Medikament für seine Frau stehlen soll“ (Kohlberg, 1995).

Soll Heinz das Medikament stehlen und damit seine Frau retten? Oder soll er den Diebstahl unterlassen und seine Frau sterben lassen? Wie würden Sie sich an seiner Stelle entscheiden?

Heinz hat nicht die Möglichkeit, seine Frau zu retten und den Apotheker zufrieden zu stellen. Für ihn gibt es nur zwei suboptimale Auswege: entweder den Apotheker zu bestehlen und seine Frau zu retten oder auf den Diebstahl zu verzichten und seine Frau sterben zu lassen. Ein moralisches Dilemma hat also die Form eines Aversions-Aversions-Konfliktes – die Wahl zwischen Skylla und Charybdis.

Allerdings haben die meisten Versuchspersonen eine mehr oder weniger deutliche Präferenz für eine der beiden Möglichkeiten. Vielleicht haben Sie beim Lesen der Geschichte spontan gedacht, dass Heinz das Medikament stehlen solle, weil er seine Frau doch nicht sterben lassen dürfe. Oder es ist für Sie unvorstellbar, vermummt und mit einem Brecheisen bewaffnet in eine Apotheke einzubrechen. Unter keinen Umständen, auch nicht, wenn es um Leben oder Tod Ihrer Ehefrau geht.

Wichtiger als die Entscheidung ist ihre Begründung

Moralpsychologisch ist es übrigens weniger interessant, wie Sie sich entscheiden, sondern viel wichtiger, warum Sie sich so entscheiden, wie Sie sich entscheiden. Die Gründe für einen Einbruch können genauso vielfältig sein wie diejenigen gegen ihn.

Was halten Sie von dem Argument, er dürfe das Medikament nicht stehlen, weil er für den Diebstahl bestraft werden könnte? (1) Vermutlich haben Sie den Eindruck, dass diese Begründung der Situation von Heinz nicht ganz gerecht wird. Soll er seine Frau sterben lassen, nur weil er eine Bestrafung fürchtet? „Er sollte das Medikament stehlen, aber dafür sorgen, dass man ihn nicht schnappt.“ (2) Auch bei diesem Argument ist uns nicht ganz wohl, da es sich wie das erste ausschließlich mit der Frage der Bestrafung beschäftigt.

„Man kann ihn nicht für etwas tadeln, was er aus Liebe zu seiner Frau tut, eher sollte man ihn tadeln, wenn er seine Frau nicht genug lieben wurde, um ihr helfen zu wollen.“ (3) Nicht die möglichen Konsequenzen, sondern die Motive stehen jetzt im Vordergrund: Wenn Heinz seine Frau liebt, wird er einbrechen, wenn er nicht einbricht, liebt er sie zu wenig. „Man kann nicht zulassen, dass jedermann stiehlt, wenn er verzweifelt ist. Der Zweck mag gut sein, aber der Zweck heiligt nicht die Mittel.“ (4) Ist dies tatsächlich so? „Das Medikament zu stehlen ist zwar nicht richtig, aber es ist gerechtfertigt.“ (5)

Diese Argumente unterscheiden sich also nicht nur in ihrem Urteil für oder gegen den Diebstahl, sondern auch in ihrer moralischen „Qualität“. Auf dem Hintergrund der Theorie von L. Kohlberg können wir sie unterschiedlichen moralischen Urteilsstufen zuordnen (ich habe diese Stufen hier beschrieben, wobei die Zahlen oben die Zuordnung zu den Stufen verdeutlichen).

Nach Kohlberg muss ein moralisches Dilemma auf jeder der moralischen Urteilsstufen sowohl eine Pro- als auch eine Contra-Begründung zulassen. Die Konsequenz: Allein aus der Entscheidung für Pro oder Contra kann man noch nicht auf die moralische „Qualität“ dieser Entscheidung schließen. Man muss also erst die Begründung kennen.

Moralische Dilemmata sind fiktive, konstruierte Geschichten

Moralische Dilemmata wie das Heinz-Dilemma sind fiktive, konstruierte Geschichten. Sie spielen irgendwo „in einem fernen Land“, in dem es keine Krankenversicherung gibt und man einen Apotheker nicht wegen unterlassener Hilfeleistung anklagen kann. Moralische Dilemmata sind künstlich und lebensfremd – mit Absicht!

Alle denkbaren Möglichkeiten – und seien sie noch so unwahrscheinlich – dem Dilemma zu entgehen, sollen hierdurch ausgeschlossen werden.

Beim Stück von Ferdinand von Schirach ist dies anders. Warum wird das Stadion mit den 70.000 Menschen nicht einfach geräumt? Statt über den moralischen Kern der Geschichte zu grübeln, könnte man auch über die vergebenen Chancen einer „technischen“ Lösung nachdenken – dann wäre es nur ein vermeintliches Dilemma.

Recht und Moral

Ist der Abschuss des Passagierflugzeugs wirklich verboten? Oder kann sich der Pilot auf einen „übergesetzlichen Notstand“ berufen? Was hat das Bundesverfassungsgericht 2006 genau entschieden? Ist das Handeln des Piloten überhaupt von diesem Urteil betroffen? Auf diesem Weg kann man der moralischen Frage durch eine juristische Diskussion entgehen.

Am 17.10.2016 entschieden sich von den Zuschauern der ARD 87 Prozent für den Freispruch des Piloten. Diese deutliche Mehrheit für eine der Alternativen lässt annehmen, dass die meisten Zuschauer die Entscheidung des Gerichts nicht als ein unlösbares Dilemma empfunden haben.

Im Stück geht es nicht um die Entscheidung des Piloten, also nicht darum, ob er das Flugzeug abschießen sollte oder nicht. In diesem Fall würde das Stück in der Flugzeugkanzel spielen und kurz vor dem Moment abbrechen, an dem es die letzte Möglichkeit gegeben hätte, die Abschussraketen auszulösen.

Von Schirachs Stück konstruiert demgegenüber die Gerichtsverhandlung nach vollzogener Tat. Also so, als hätte Heinz den Einbruch begangen und müsste sich nun vor Gericht hierfür verantworten. In Bezug auf das eigentliche moralische Dilemma erfolgt hierdurch eine „Problemverschiebung“.

Das Gericht muss gar nicht entscheiden, ob der Pilot richtig oder falsch gehandelt hat. Es muss nur entscheiden, ob er sich strafbar gemacht hat.

Vor allem darf ein Gericht nicht vorrangig moralisch argumentieren. Es muss seine Urteile rechtlich begründen – in Bezug auf die Stufen Kohlbergs ist es also zumindest der Stufe 4 („Recht und Ordnung“) verpflichtet.

 

Bildnachweis: Henry Fuseli [Public domain or Public domain], 
via Wikimedia Commons
Literaturhinweis

Kohlberg, L. (1995). Die Psychologie der Moralentwicklung. 
Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Terror von Ferdinand von Schirach

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Kurzmitteilung / Psychologie
Trolley Problem

Ein moralpsychologisches Lehrstück?

Die ARD hat am 17.10.2016 das Theaterstück „Terror“ von Ferdinand von Schirach abends zur besten Sendezeit ausgestrahlt. Die Zuschauer hatten dann – wie im Theaterstück – die Möglichkeit, ihr eigenes Urteil abzugeben (wobei viele wohl aufgrund technischer Probleme der ARD weder telefonisch noch per Internet zur Stimmabgabe kamen – ich habe es auch nicht geschafft).

Der Inhalt des Stücks dürfte bekannt sein – ein Kampfpilot schießt ein mit 164 Passagieren besetztes Flugzeug ab, das von einem Terroristen entführt wurde und ein mit 70.000 Menschen besetztes Fußballstadion ansteuert. Im Stück wird die Gerichtsverhandlung dargestellt und die Zuschauer dürfen über das Urteil entscheiden: Soll der Pilot wegen 164fachen Mordes verurteilt oder freigesprochen werden?

Der Bundesrichter Thomas Fischer hat auf in seinem Blog auf Zeitonline das Stück (nicht nur) aus juristischer Sicht massiv kritisiert. Seine Argumente zum Zusammenhang von Schuld und Recht sind erhellender als das gesamte Stück.

„Weil das Stück von Schirach die Unterscheidung zwischen Unrecht und Schuld fast vollständig unterschlägt, unterschlägt es auch die Tatsache, dass die Lösung des Dilemmas keineswegs nur „jenseits des Rechts“, also irgendwo im Reich der höchstpersönlichen, beliebig „abstimmbaren“ Moral gefunden werden kann, sondern dass es gerade das Recht ist (und sein muss), das sich die am weitesten gehenden und überzeugendsten Gedanken zu solchen Problemen gemacht hat“ stellt Fischer in seinem Blog fest.

Ich bin mir nicht sicher, ob das Recht sich die „am weitesten gehenden und überzeugendsten Gedanken“ gemacht hat (falls sich das Recht überhaupt Gedanken macht). Plausibel ist aber, dass die juristische Lösung des Falles durchaus möglich ist. Dies zeigt auch das im Fernsehstück dann gespielte Urteil, in dem der Richter plötzlich den „übergesetzlichen Notstand“ aus dem „Fernsehzylinder zaubert“ (Fischer).

So wie sich der Jurist Fischer über die rechtlichen Unzulänglichkeiten des Stückes ärgert, ärgere ich mich über die verpasste Chance, einem Millionenpublikum ein faszinierendes moralisches Dilemma zu präsentieren.

Das Abstimmungsergebnis (87% der Zuschauer votierten für „Freispruch“) zeigte deutlich, dass für die meisten gar kein Dilemma vorlag, sondern alles für die „Freispruch-Alternative“ sprach (für die ich übrigens auch gestimmt hätte). Wenn ein moralisches Problem keinen Dilemmacharakter hat, dann ist es als Grundlage einer spannenden Diskussion nur wenig geeignet. Dilemma bedeutet ja, dass es keine zufriedenstellende Lösung gibt, sondern nur zwei (oder mehrere) suboptimale Lösungen: Wie man sich auch entscheidet, man macht immer etwas falsch. Ein ideales moralisches Dilemma sollte auf jeder moralischen Urteilsstufe (siehe meinen Beitrag vom 29.9.2016) eine Begründung für beide Alternativen zulassen. Dies kann man in Schirachs Stück allenfalls für den Piloten annehmen, aber leider nicht für den Zuschauer in der Rolle eines Schöffen.

Bei Hart aber fair stand Gerhart Baum mit seiner Ablehnung des Freispruchs daher auf verlorenem Posten.

Die typischen Requisiten moralpsychologischer Forschung kamen übrigens fast alle im Stück vor: das sog. Trolleydilemma („Soll man die Weiche umstellen, wenn statt fünf dann nur ein Mensch getötet wird?“), Kants Aufsatz zum „Lügen“, die moralische Intuition. All dies wurde aber nur angedeutet und wurde nicht weiter vertieft.

* Abbildung von McGeddon - Eigenes Werk, CC-BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=52237245

Wie kommt die Moral in den Menschen? Kohlbergs Stufen der Moralentwicklung

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Psychologie

Wie entwickeln sich unsere Vorstellungen von „Richtig“ und „Falsch“, von „Gut“ und „Böse“? Kommen wir mit einem „Moralsinn“ auf die Welt? Oder sind wir ethisch gesehen unbeschriebene Blätter, die nur darauf warten, von den Erwachsenen ausgefüllt zu werden?

Vermutlich ist beides falsch. Wir werden nicht mit einem Sinn für das Moralische geboren, aber wir sind auch keine leeren Wachstafeln. Einige wichtige Voraussetzungen für die Unterscheidung von Gut und Böse beherrschen wir schon sehr früh. Bevor wir überhaupt sprechen können, unterscheiden wir Lebewesen von toter Materie. Wir sehen den Unterschied zwischen „Bewegen“ und „Bewegt werden“ – eine wichtige Vorbedingung, um Täter von Opfern zu unterscheiden. Bereits mit neun Monaten bevorzugen wir nicht nur diejenigen, die unsere Vorlieben teilen, sondern auch diejenigen, die uns in unseren Abneigungen ähnlich sind.

Nach Jean Piaget ist unsere Welt in den ersten Lebensjahren egozentrisch: Wir sind ihr Mittelpunkt und wir sehen sie noch nicht mit den Augen der anderen. Moralisch gesehen hat dies auch Vorteile: Wir können noch nicht lügen! Wer einem Dreijährigen bei den ersten Täuschungsversuchen zuschaut, versteht, dass die kindliche Unschuld auf kognitivem Unvermögen beruht. Erst wenn Kinder verstehen, was andere denken und wünschen, können sie erfolgreich täuschen. Aber nicht nur die Lüge, auch die Wahrheit funktioniert nicht ohne den Verstand.

Wie entwickeln sich unsere Vorstellungen von Moral im Laufe unseres Lebens? Der amerikanische Psychologe Lawrence Kohlberg hat diese Entwicklung in Stufen eingeteilt.

Kohlbergs Stufen der Moralentwicklung

1. Lohn und Strafe

Woher wissen wir überhaupt, was richtig und falsch, was gut und böse ist? Da uns dies Wissen nicht in die Wiege gelegt wurde, erfahren wir es von den Älteren. Aber was für eine Art von Wissen vermitteln die Älteren uns? Vieles bezieht sich auf konkrete Situationen: Das darfst du nicht! Dies musst du so machen! Warum? Weil es nicht erlaubt ist. Weil es böse ist. Weil du dem anderen nicht wehtun sollst. Weil er dann traurig ist. Weil er dann nicht mehr mit dir spielen will.

Aus den elterlichen Ge- und Verboten destillieren wir als Kinder die moralische Regel: Was verboten ist, wird bestraft. Was bestraft wird, ist böse! Was belohnt wird, ist gut! Auf die Konsequenzen kommt es an, nicht auf die Intentionen.

2. Zweckdenken

Aber wir entwickeln uns schnell weiter. Wir fangen an zu verstehen, wie die Anderen denken, welche Wünsche und Ziele sie haben. Wir lernen, dass wir gewinnen, wenn wir schneller, cleverer oder tüchtiger sind. Aber auch, dass wir verlieren, wenn die Konkurrenz besser ist! Wenn wir schneller sind, gehört der Preis uns – zu Recht.

Gut ist, was erfolgreich ist. Wenn die Älteren die Kleinen vom Fußballplatz vertreiben, dann machen sie es, weil sie es können. Wenn die Kleinen ihr Spielfeld mit Hilfe des Platzwartes zurück erobern, dann ist auch dies okay, weil es erfolgreich war. Was richtig ist, steht nicht am Anfang fest, sondern erst am Ende. Wenn die Älteren die Kleinen rachsüchtig verprügeln, wendet sich das Blatt ja wieder. Am besten wir rechnen mit allem und bleiben wachsam!

3. Übereinstimmung mit anderen

Im Jugendalter werden wir konventionell – unsere Moral orientiert sich an sozialen Normen. Wir möchten so sein wie die anderen. Richtig ist, was die Clique denkt. Richtig ist, was die Familie denkt. Und hoffentlich denken alle in die gleiche Richtung. Falls nicht, müssen wir Familie und Freunde auseinander halten. Die Freunde helfen uns, zu uns selbst zu finden, uns von den Eltern zu lösen, erwachsen zu werden.

Die Normen der Gruppe werden zu den eigenen. Die Sicherheit der Gruppe hat allerdings auch ihren Preis: Es fällt dem einzelnen schwer, Ungerechtigkeiten zu erkennen, die von der Gruppe getragen werden. Dies würde einen von der Gruppe unabhängigen Standpunkt erfordern, der auf dieser Stufe noch nicht erreicht ist.

Die Angst vieler Eltern, ihr Kind könnte als Jugendlicher in „schlechte Gesellschaft“ geraten, zeigt, dass die Gesellschaft diesen Gruppendruck, dem gerade Jugendliche unterliegen, gut kennt. Dabei werden die realen Gefahren allerdings häufig überschätzt und die notwendigen Entwicklungschancen unterschätzt – aber das ist ein anderes Thema. So bizarr und „unkonventionell“ das Aussehen vieler Jugendlicher aus erwachsener Sicht auch erscheinen mag, so konventionell ist im Grunde ihr Denken: Richtig ist, was die Clique für richtig hält.

4. Recht und Ordnung

Die Moral der Gruppe stößt in pluralistischen Gesellschaften schnell an Grenzen – was ist richtig, wenn für jede unserer Rollen andere Regeln gelten? Wer Werte über die Grenzen von Gruppen hinweg managen möchte, braucht eine übergeordnete Perspektive. Ganz einfach ist dieser Schritt nicht – Helmut Kohl verweigerte ihn mit dem Hinweis, dass man sein Ehrenwort nicht breche. Die gesellschaftliche Perspektive stellt die Moral auf die Grundlage von Recht, Gesetz und Pflicht.

Stellen wir uns das typische Szenario eines Western vor:

Ein gottverlassener Ort wird von den Männern eines reichen Ranchers terrorisiert. Eines Tages taucht ein unbekannter Revolverheld auf, den die bedrängten Farmer um Hilfe bitten. Beim ersten Zusammentreffen mit dem Rancher stellt sich heraus, dass beide sich von früher kennen. Hält sich unser Revolverheld eingedenk alter Freundschaft aus der Sache raus oder stellt er sich auf die Seite der Farmer, besiegt den Rancher und sorgt für die Wiederherstellung von „Recht und Ordnung“?

Westernkenner wissen, wie die Sache weitergeht: Nach einem blutigen Showdown mit unzähligen Toten siegt das Recht.

So sehr uns die eigene Familie, Freunde und Kollegen auch am Herzen liegen mögen, unsere moralischen Entscheidungen sollen jetzt den Ansprüchen der Allgemeinheit standhalten. Den Freund also doch verraten? Recht und Gesetz machen unsere Moral nicht unbedingt freundlich und liebenswert, sondern manchmal auch kalt und herzlos.

5. Postkonventionelle Moral

Die Orientierung an der sozialen Norm, am Gesetz oder der Pflicht kann natürlich auch falsch sein. Die jüngere deutsche Geschichte hat hierzu viele Beispiele parat, von den Unrechtsurteilen der Nazizeit bis zu den DDR-Belobigungen für „Mauerschützen“. Können wir eine dem Gesetz übergeordnete Perspektive einnehmen, mit der wir erkennen, wann die Anwendung von Recht zu Unrecht führt? Diese Fähigkeit erwarten wir von unseren Verfassungsrichtern und hoffentlich auch von uns selbst. Dieser Schritt von der „konventionellen“ zur „postkonventionellen“ Moral gelingt uns – wenn überhaupt – erst spät und kann durchaus als Merkmal des Erwachsenseins aufgefasst werden.

 

Anmerkungen:

Dieser Beitrag ist in einer früheren Version in der Evangelischen Kirchentageszeitung vom 1.5.2013 erschienen. Ich danke der Redaktion, dass ich die Inhalte hier im Blog verwenden darf!

Die hier skizzierten fünf moralischen Urteilsstufen beziehen sich auf die Theorie der moralischen Urteilsentwicklung des amerikanischen Psychologen Lawrence Kohlberg (1927–1987). Eine ausführliche kritische Darstellung dieser Theorie findet sich z. B. in meinem Buch „Einführung in die Moralpsychologie“, Weinheim: Beltz, 2008.